Süddeutsche Zeitung

Skispringen:Wo war eigentlich Ryoyu Kobayashi?

Lesezeit: 3 min

In einem Sommer die Form verloren: Der zweimalige Vierschanzen-Gewinner sprang diesmal chancenlos hinterher. Den Japaner plagt ein rätselhaftes Problem, über das er kaum spricht. Stattdessen trainiert er. Und trainiert und trainiert.

Von Volker Kreisl

Er macht es wie alle. Seit Monaten sitzt Ryoyu Kobayashi immer wieder da oben, beobachtet von den Trainern, den Medien und den Zuschauern an den Fernsehern. Er versucht jetzt, störende Gedanken zu ignorieren. Dann lässt er sich in die Spur fallen, fährt wie immer tief hockend hinunter, springt ab und landet abermals mit einem Kopfschütteln. Es ist die Routine des Verlierers, seit Beginn des Herbstes läuft das so. Ryoyu Kobayashi, der überragende Springer dieser Zeit, kommt nicht vom Fleck.

Mit dem Drei-Königs-Springen, ist die Vierschanzentournee zu Ende gegangen, vorab war schon klar, dass Kobayashi diesmal nicht zu den Springern zählt, die nach dem Tournee-Finale am Freitagabend in Pressekonferenzen und vorher von Kamera zu Kamera geführt werden. Aus Innsbruck war er als Neunzehnter nach Bischofshofen gereist, mit einem Rückstand von 272,6 Punkten auf den Führenden Norweger Granerud, was 151 Metern entspricht - eine Rechnung, die einen schon lange Formkriselnden kaum interessiert. Am Ende wurde er 18. in der Gesamtwertung.

Kobayashi hat andere Sorgen. Er muss zwar als immer noch Japans Bester und Team-Leader gewisse Aufgaben erledigen. Die wenigen Fragen etwa antwortet er knapp und höflich, dann geht er aus dem Rund und widmet sich dem Alltag: Essen, Schlafen und - sagt sein Übersetzer und auch Tournee-Begleiter Markus Neitzel - Training.

Arbeit und Fleiß - die Lösung führt nicht immer zum Erfolg

Neitzel sagt, auf die Frage, woran es wohl liege, gebe Kobayashi oft dieselbe Antwort. Der überragende Tourneesieger der vorangegangenen Jahre, der zuletzt die jüngste Ausgabe 2022 mit drei Siegen und einem fünften Platz in Bischofshofen gewann, erklärt: "Ich habe nicht genug trainiert." Das, so Neitzel, sei aber keine Floskel, sondern Ausdruck der japanischen Mentalität. Niederlagen würden nur beweisen, dass noch Luft nach oben ist, dass man noch mehr arbeiten müsse, das wäre der beste Weg.

Kobayashi ist nicht der Einzige, der ein rätselhaftes Problem hat beim pünktlichen Abheben, in dem bei den meisten Kurzspringern die Schwierigkeit liegt. Auch Peter Prevc, der slowenische Topspringer der Zehnerjahre und Vierschanzen-Gewinner 2016, hatte diese Saison noch keinen Erfolg. Er stand in der Gesamtwertung nach Innsbruck auf Rang 22, sein Bruder Domen auf Rang 26. Hinterher springt auch der Norweger Daniel Andre Tande, der allerdings vor knapp zwei Jahren einen schweren Sturz erlitten hatte. Und, nicht zu vergessen, der Siegsdorfer Markus Eisenbichler, der sich schon mit Ausstiegsgedanken aus der Tournee beschäftigt hatte, ehe er dann in Garmisch wieder besser zurechtkam und seitdem Fortschritte macht.

Den meisten dieser Suchenden, aber auch den zufriedenen Restmannschaften, verordnen die Trainer zwischendurch Ablenkung. Diese kann die Gedanken von Pessimismus befreien und neue Kräfte entfalten. Deshalb schicken die Europäer ihre Dauerspringer am Ruhetag auch mal zum Fahrsicherheitstraining für den Straßenverkehr, zum Kegeln oder auch zum Eisstockschießen. Die Japaner indes, beobachtet Neitzel, gehen eher trainieren. Nur selten wird dieses Prinzip einmal aufgegeben, wenn es sein muss: Etwa im vergangenen Winter, als Kobayashi zum Saisonauftakt corona-positiv getestet wurde und fünf Tage in Hotelzimmer allein verbrachte. Ohne Kraftgeräte, ohne eine Schanze mit Anlauf, Spur und Absprung. Danach, so erinnert sich sein Übersetzer, empfand es für der disziplinierten Topsportler ein bisschen wie Urlaub. Kobayashi sagte: "Das hat mir gutgetan."

Traditionellen Skisprung-Karrieren setzt Naoki Nakamura eine Alternative entgegen

Plötzliche Formeinbrüche passieren Sportlern aus allen Verbänden, auch sie kämpfen mit ihrer Ungeduld. Kobayashi trägt dabei aber eine zusätzliche Last. "Japans Gesellschaft ist vertikal strukturiert", sagt Neitzel. Das heißt, es bilden sich auch jenseits von festen Hierarchien häufig Strukturen, an deren Spitze einer der Chef sein muss. Und das bedeutet: Kobayashi hat neben seiner Aufgabe, einen erfolgreichen Sprung hinzukriegen, auch den Job des Leitwolfs, hinter dem sich die anderen verstecken dürfen.

Einer von ihnen ist Naoki Nakamura aus Rumoi/Hokkaido, der gerade vorführt, dass diese traditionelle Sportführung, die ja auch schon reichlich Erfolge brachte, trotzdem eine Alternative hat. Nakamura wohnt in Westeuropa, kürzlich ist er nach Bad Reichenhall gezogen. Er zählt zum Team, geht aber seinen eigenen Weg. Statt des warmen Nests, hat er ein gewisses Maß an Unabhängigkeit gesucht und trainiert nun als Einzelspringer - der doch nicht allein ist. Denn Nakamura, der einen Großteil seines Lebens selbst finanzieren muss, ist nach dem Springen als Crowdfunder in seinem Internetauftritt unterwegs. Sobald es möglich ist, also schon in der Mixed-Zone, schaltet er die Kamera an und nimmt seine Follower mit.

Für Ryoyu Kobayashi scheint das nichts zu sein. Er arbeitet, und gerade arbeitet er sich Stück für Stück auf den Schanzen zurück. Anlauf, Absprung, Flug, Landung - Tag für Tag. Womöglich dauert es nicht mehr lange - in der Qualifikation für Bischofshofen wurde er Achter, wenngleich es im Wettkampf dann nur für Position 17 reichte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5727930
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.