Süddeutsche Zeitung

Ski alpin:Ein Reflex, um zu vergessen

Lesezeit: 4 min

Von Johannes Knuth, Gröden

Die schweren Gedanken kamen einfach so, sagt der Skirennfahrer Andreas Sander, wie ein Gast, der sich nicht angekündigt hat. "Ich habe mich gefragt: Warum lässt du das so an dich ran? Aber da kann ich ja nichts machen." Die Trauer ist eben nie so, wie man sie sich ausmalt, vor allem, wenn der Tod einen Bekannten aus dem Leben reißt wie den Franzosen David Poisson. Sie kannten ihn alle gut, die Amerikaner, Norweger, Deutschen, Italiener, die sich am 13. November in Copper Mountain auf den neuen Winter vorbereiteten, als die Kunde aus Kanada von Poissons Unfalltod eintraf. "War eine harte Zeit", sagt Sander heute. "Da muss man erst mal so weit sein, dass man wieder rausgeht."

Die Abfahrer sind mittlerweile nach Bormio weitergezogen, die beinharte Stelvio-Piste steht an diesem Donnerstag mal wieder im Programm, nach dreijähriger Pause. Der alpine Skibetrieb preist bei dieser Gelegenheit gerne die Gefahren, die Hochgeschwindigkeitskurven auf der Stelvio etwa, durch die der Amerikaner Bode Miller mal auf einem Ski navigierte. Doch der Skibetrieb ist halt auch ein anderer, seitdem Poisson Mitte November die Kontrolle verlor, durch zwei Netze rauschte und gegen einen Baum prallte. Und weil Anfang Dezember der 17-jährige Deutsche Max Burkhart bei einer zweitklassigen Abfahrt in Lake Louise starb, steht auch der Ritt auf der Stelvio im Schatten der Nachdenklichkeit.

Die Abfahrt nennen sie die Königsdisziplin, es geht um Mut und Gefahren - Gefahr verkauft sich nun mal besser als Sicherheit. Auch deshalb schauen alle nach Bormio, Garmisch oder Kitzbühel. Die Weltcup-Abfahrten haben Karrieren zerstört, sie haben Karrieren aber auch in neue Sphären gehoben, das Schöne konnte es ohne das Gefährliche nicht geben. Dass das Risiko dabei immer auch ein tödliches war, hatte die Karawane lange aus dem Bewusstsein verdrängt, bis November war die letzte Tote die Französin Regine Cavagnoud, 2001. Erst nach schweren Unfällen in der jüngeren Vergangenheit wurden die Zweifel stärker, ob der Preis für das Spektakel nicht zu hoch ist. Nach zwei Todesfahrten binnen eines Monats sowieso.

Sander ist dankbar für schwere Gedanken

Die Fälle sind unterschiedlich, Poisson stürzte auf einer schlechter gesicherten Trainingspiste in Nakiska, Burkhart rauschte offenbar nach einem Fahrfehler ins Netz, die Behörden ermitteln noch immer. Derweil geht es weiter, Bormio, Wengen, Kitzbühel. Die Fahrer sagen in diesen Tagen meist das Übliche, dass es ihnen gut geht und so, es ist wohl auch ein Reflex, um zu vergessen. Sie funktionieren, bei den Deutschen läuft es sogar so gut wie seit Jahren nicht mehr. Aber geht das einfach so: dass man weiter funktioniert?

Sander, der bislang konstanteste Deutsche, sagt, er sei mittlerweile dankbar für die schweren Gedanken. Er rede darüber, Reden ist oft besser als Verdrängen, es schafft Platz für neue Gedanken. "Ich habe mit meiner Frau telefoniert, mit meinen Eltern, vielleicht bin ich deshalb darüber weg gekommen", sagt er. Sander hat den Franzosen auch gesagt, dass sie immer mit ihm sprechen können. Abfahrer tragen großen Respekt vor den Kollegen und dem Risiko in sich, das jeder auf sich lädt, nichts verankert dieses Gefühl so tief wie der Tod eines Kollegen. "Es ist vielleicht auch Schicksal", sagt Sander, "es kann auch passieren, wenn ich in den Zug steige oder ins Flugzeug. So muss ich es sehen, sonst kann ich die Abfahrt nicht bewältigen. Ich weiß natürlich nicht, was nach der Saison bei mir passiert, wenn man das mal sacken lässt."

Sanders Teamkollegen, Thomas Dreßen und Josef Ferstl, Sieger im Super-G zuletzt in Gröden, versuchen derweil, alles Irrationale zu vertreiben. "Ich habe mich noch nie mit dem Tod auseinandersetzen müssen", sagt Ferstl, "für mich war es wichtig zu wissen, wie es passiert ist." Die Trainingspiste in Nakiska, wo Poisson verunfallte, "ist einfach nicht das perfekte Trainingslager wie Copper", sagt Ferstl. Netze, Präparierung, der Kurs in Copper, "da weiß man, wie alles reagiert". In Lake Louise, wo Burkart starb, war das ähnlich, der Weltcup war dort kurz zuvor zu Gast. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Fehler, der Max an der Stelle passiert ist, einem Fahrer im Weltcup passiert", glaubt Dreßen. Burkhart wurde von einer Skischule in den USA betreut; der Deutsche Skiverband verfügte nach dem Unfall, dass er nur noch Fahrer für internationale Rennen freigibt, die sich der DSV-Ausbildung unterworfen haben. Andererseits: Burkhart hatte diese Schulung durchlaufen. "Ich denke, er hätte von uns die Freigabe bekommen", sagt der deutsche Cheftrainer Mathias Berthold.

Und jetzt?

Viele Vorschläge in der jüngsten Sicherheitsdebatte wirken wie ein Rad, an dem man dreht und damit hundert andere Rädchen verschiebt. Athletensprecher Hannes Reichelt forderte den Weltverband zuletzt auf, die dünnen Anzüge der Fahrer ("ein Witz") zu verstärken. Aber dickere Anzüge oder der Airbag, den die Fahrer seit zwei Jahren tragen dürfen (nicht müssen), schützen nur bedingt, wenn sie mit 100 Stundenkilometer in ein Fangnetz rauschen. Die Kurssetzer könnten mehr Kurven einbauen, aber mehr Kurven bedeuten größere Fliehkräfte, weil sich moderne Ski immer besser auf der Kante steuern lassen. Im Riesenslalom haben sie zuletzt die Kurvenradien verkürzt, um die grassierenden Rückenmalaisen einzudämmen, dafür wirken nun eben größere Kräfte in den Kurven, zuletzt mehrten sich die Kreuzbandrisse. "So kann es auch nicht weitergehen", sagte Stefan Luitz, der jüngste Kreuzbandpatient, der Tiroler Tageszeitung. "Der Sport wird jedes Jahr ein bisschen besser", glaubt der Norweger Aksel Lund Svindal, jeder müsse mehr riskieren, "die Linie zwischen gesund bleiben und stürzen wird immer dünner." Eine Lösung? Sehe er derzeit nicht.

Am Mittwochabend hielten sie in Bormio eine Zeremonie für Poisson ab, Michel Vion, der französische Verbandschef, nahm eine Gedenkplakette entgegen. Am Donnerstag geht es dann die Stelvio runter, mit 63 Prozent Neigung. Steiler ist kein Start im Weltcup.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2017
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