Süddeutsche Zeitung

Eisläuferin Sarah Abitbol:"Ich verzeihe nichts"

Lesezeit: 3 min

Von Leo Klimm, Paris

Sie war 15 Jahre alt. Sarah Abitbol war im Trainingslager, als eines Nachts plötzlich ihr Coach auf ihrem Bett saß. Er roch nach Alkohol, beugte sich über sie und, so erzählt sie heute, vergewaltigte sie. "Das bleibt unser Geheimnis", soll Gilles Beyer gesagt haben, als er das Zimmer wieder verließ. Es war das erste Mal, es war ihr erstes Mal. Dann geschah es immer wieder, zwei Jahre lang.

"Er hat fürchterliche Sachen gemacht", sagt Abitbol: "Warum habe ich nicht geschrien? Warum bin ich nicht davongerannt?" Sie hat selbst keine Antwort. Heute ist sie 44 Jahre alt. Fast drei Jahrzehnte hat es gedauert, bis die mehrmalige französische Paarlauf-Meisterin und Weltmeisterschaftsdritte von 2000 über ihr Trauma sprechen konnte und ein Buch schrieb: Un si long silence. Ein so langes Schweigen.

Es geht um die Frage, ob sexuelle Übergriffe im Spitzensport toleriert werden

Nun ist das Schweigen über sexuelle Gewalt in Frankreichs Eiskunstlauf gebrochen - und das löst eine Schockwelle aus, die nicht nur das kleine Schlittschuh-Milieu des Landes erschüttert, sondern das gesamte Sport-Establishment: Sportministerin Roxana Maracineanu hat sich eingeschaltet und nach einem Vier-Augen-Gespräch den Rücktritt von Eissportverbandchef Didier Gailhaguet verlangt. Er soll Beyer gedeckt haben. Seit Dienstag ermittelt die Staatsanwaltschaft, weil nach Abitbol auch andere ehemalige Läuferinnen Ähnliches über Beyer und weitere Trainer berichten. Ihre Fälle sind womöglich noch nicht verjährt. Doch Gailhaguet, schon vor der Affäre um seinen Freund Beyer ein skandalumwitterter Funktionär, denkt nicht an Rücktritt: "Ich habe Irrtümer begangen, aber keine Vergehen", sagt er trotzig. "Ich bin ein sauberer Mann."

So entspinnt sich ein Machtkampf, in dem es um die Frage geht, ob Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe im Spitzensport toleriert werden. Und ob, wie Abitbol beklagt, hinter dieser stillschweigenden Duldung System steckt.

Nach der Metoo-Bewegung sind in Frankreich in den vergangenen Monaten reihenweise Fälle schweren sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen aufgedeckt worden. Erst in der katholischen Kirche, was einen Kardinal zu Fall brachte. Dann in der Filmbranche, wo Frankreichs aufstrebender Schauspielstar Adèle Haenel von Übergriffen durch einen Regisseur berichtete. Zuletzt in der Literaturszene, als die Verlegerin Vanessa Springora ein Buch über den Missbrauch veröffentlichte, dem sie als Jugendliche durch einen einst gefeierten Schriftsteller ausgesetzt war.

Jetzt hat die ehemalige Eiskunstläuferin Sarah Abitbol ein Buch geschrieben, jetzt ist der Leistungssport dran. "Die Worte brechen sich Bahn, der Sport entkommt dem nicht", sagte Denis Masseglia, Chef des französischen Olympischen Sportkomitees CNOSF, der Zeitung Le Parisien: "Wir können uns eine grundsätzliche Betrachtung der Sache nicht ersparen." Tatsächlich kann von Einzelfällen keine Rede mehr sein: Auch im französischen Tennis, in der Leichtathletik und im Schwimmen häufen sich Klagen über übergriffige Jugendtrainer. Die Frage ist, ob das Problem strukturell ist: Trainer sind für sehr junge Sportler oft Vertrauenspersonen - und damit in einer Machtposition, die Missbrauch erleichtert. Hinzu kommt nicht selten eine Kultur der Intransparenz. Wie im Fall von Abitbol.

Sportministerin Maracineanu fordert von Verbandschef Gailhaguet eine Erklärung, warum Beyer in den 2000er-Jahren unbehelligt seine Karriere fortsetzen konnte, obwohl er damals schon nach Beschwerden von Eltern ausdrücklich keine Jugendlichen mehr hätte trainieren dürfen. Gailhaguet war 1998 an die Verbandsspitze gerückt und hatte Beyer den Posten des Sportchefs für Eiskunstlauf überlassen.

Als Funktionär wurde Gailhaguet auch in anderer Hinsicht auffällig. Bei den Olympischen Spielen von Salt Lake City 2002 stiftete er eine Kampfrichterin zu einem Betrug an, der den Sieg eines französischen Eistanzpaares begünstigte. Nach dreijähriger Sperre kehrte er als Verbandschef zurück. Kurz darauf musste er wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten abermals zurücktreten - und schaffte es dennoch, sich 2007 wieder zum obersten Eislauf-Funktionär Frankreichs wählen zu lassen. Nun erhebt Abitbol schwere Vorwürfe auch gegen ihn, doch er will nicht weichen. Aus dem Verband werden bisher auch keine Stimmen gegen Gailhaguet laut. Für diesen Mittwoch kündigt er eine Gegenoffensive an. Dann will er bei einer Pressekonferenz wohl belegen, dass das Sportministerium über Beyers Treiben stets im Bilde war.

Beyer selbst wurde vor wenigen Tagen als Trainer bei einem Pariser Verein entlassen, für den er zuletzt tätig war. Im Fall Abitbol gibt er sich zerknirscht. "Ich gebe zu, dass ich intimen Verkehr mit ihr hatte", räumt er ein. Rückblickend habe es sich um eine "unziemliche Verbindung" gehandelt, sagt der 62-Jährige. Beyer spricht von einem "Fehler". Er entschuldigt sich bei der früheren Athletin.

Sarah Abitbol nimmt die Entschuldigung nicht an. "Das waren keine 'unziemlichen Verbindungen', das waren Vergewaltigungen", sagt sie. "Ich verzeihe nichts." Sie ist erleichtert, dass die Justiz ermittelt, um andere mutmaßliche Opfer auszumachen. Und sie warnt: Der Fehler liege im System, im "organisierten Schweigen" der Sportbürokratie, das sexuelle Gewalt erst ermögliche. "Ich will", sagt sie, "dass die Verantwortung all jener beleuchtet wird, die im Verein und im Verband die Sache gedeckt haben."

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SZ vom 05.02.2020
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