Süddeutsche Zeitung

Ringen:Leiden reloaded

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Frank Stäbler schafft in Budapest einen einmaligen Titel-Hattrick: Er hat jeden seiner drei WM-Titel in einer anderen Gewichtsklasse errungen. 2020 will er in Tokio endlich eine Olympiamedaille erringen - doch das wird schwer.

Von Volker Kreisl

Dieses Prinzip ist überkommen. Sich so richtig reinzuhängen und zu überwinden, sich zu quälen, was soll das? Ja, man muss in jeder Sportart, im ganzen Leben an sich immer mal die Zähne zusammenbeißen - aber leiden? Und das über längere Zeit auch noch, als Lebensprinzip? Dies gilt als altmodisch, und das aus guten Gründen.

Andererseits, der Ringer Frank Stäbler aus Musberg bei Stuttgart bekommt gerade "Tausende von Nachrichten", wie er berichtet. So viele, dass er mit dem Antworten nicht nachkommt. Er hat seit Freitagabend nicht geschlafen, höchstens einmal ein paar Minuten hier und da, er wurde in Sportsendungen zugeschaltet, und es wurde ihm von allen Seiten gratuliert zu dem Weltmeister-Titel, den er am Freitag in Budapest errungen hatte. Alte und junge und ganz junge Leute meldeten sich - und das, obwohl Frank Stäbler schon lange das altmodische Prinzip des Leidens zu seinem Motto erklärt hat.

Im Grunde, seit er als Schüler mal diesen Satz von Mohammad Ali gelesen hatte. Der Boxer und Jahrhundertsportler sagte einst, er hasse jeden Trainingstag, aber er habe sich gesagt: "Gib nicht auf. Leide jetzt und lebe den Rest deines Lebens als Champion."

Stäbler versucht das theoretisch Unmögliche wahr zu machen, er verwendet diesen Begriff selber sehr oft, aber er hält seit Jahren Wort. Er wurde Weltmeister 2015 in Las Vegas, 2017 in Paris und nun in Budapest. Aus eher regeltechnischen Gründen hatte er dabei immer die Gewichtsklasse wechseln müssen, weshalb sein Titel-Hattrick nun weltweit einmalig ist. Er ist seit knapp 30 Jahren, seit der Erfolgszeit von Maik Bullmann, der nächste deutsche Champion in einem traditionsreichen und weltweit verbreiteten Sport, der vergleichsweise kaum wahrgenommen wird. Und er hat es nicht nur mit Gegnern zu tun, sondern auch mit einem zehrenden Musberger Vereinsstreit, der sein Training behinderte, mit Sportpolitikern und mit seinem Körper, zurzeit den Schmerzen im Fuß.

Schmerzen haben sie wohl alle, das gehört zu einem Vollkontaktsport, in dem man sich schnell eine Zerrung oder einen Cut zuzieht und daher oft mit getapten Gliedmaßen in den Wettkampf geht. Das klingt schon wieder nach überkommenem Heldentum, doch waren Stäblers Fuß- und Handgelenksschmerzen im Viertelfinale in Budapest gegen den Kasachen Demeu Zadrajew nun mal ganz real. Die einen verdrängen sie, Stäbler lässt sich dadurch anspornen. Und weil er wegen eigener Unaufmerksamkeit plötzlich 0:6 zurücklag, blieb ihm nur noch, diese aussichtslose Lage als Chance zu sehen, als die Chance, seine ganze Hebeltechnik und seine Nervenstärke zu zeigen.

Das Ganze dauerte dann 20 Kampfsekunden - eine Verwarnung, ein Griff, ein Ausheber und noch eine Strafe für Zadrajew, und es stand 10:6. "Das war der Schlüsselmoment", sagt Stäbler, "die Euphorie hat mich dann durch den ganzen restlichen Wettkampf getragen."

Stäbler leidet nicht, weil ihm das ein Trainer oder ein Sportsystem verordnet, sondern er leidet bewusst. Und das wird in den kommenden zwei Jahren noch interessant, wenn es nämlich wieder ums Hungern geht, oder wie es im Ringen heißt: Abkochen. 2020 will er in Tokio nach zwei vergeblichen Versuchen endlich eine Olympiamedaille erringen, doch das wird schwer. Zwar hat der Weltverband das gleichsam betrügerische Gewicht-Abnehmen unterbunden, weshalb nicht mehr alle dazu gezwungen werden, tagelang in Mänteln in der Sauna Kilos abzuschwitzen, womöglich noch bei Außenhitze, wie 2015 in Las Vegas, die den Organismus zusätzlich schwächt. Aber die Reform schuf auch gleich ganz neue olympischen Gewichtsklassen, und Stäbler liegt mit seinem Idealgewicht von 75 Kilogramm mal wieder im Bereich des "theoretisch Unmöglichen", wie er sagt.

Durch die Reform muss er sein natürliches Gewicht verringern. Das ist fast unmöglich

Sich in die Klasse bis 77 Kilogramm hinauf zu futtern, bringt nichts. Denn zusätzliche Muskel- oder gar Fettmasse schränkt nur Stäblers überragende Beweglichkeit ein. Sich in die Klasse bis 67 Kilo schnell mal herunter zu kochen, geht auch nicht mehr, also muss er entweder seinen olympischen Traum begraben, oder er sieht das Dilemma so, wie sein Trainer und Namensvetter Andreas Stäbler. Als "megageil", als "neue Herausforderung" hatte der die Situation spontan bezeichnet. Die Idee ist nun, in den kommenden zwei Jahren das natürliche Grundgewicht künstlich um ein paar Kilogramm zu senken, und ein neues natürliches Grundgewicht zu erreichen, damit er im Wettkampf doch die scheinbar unerreichbaren 67 Kilo erreicht. Das wird ziemlich anstrengend, aber Stäbler hat ja im Prinzip Lust aufs Leiden.

Nur, wie vermittelt man diese Lust jenen Schülern, die in Musberg oder sonst wo den Mattensport mal probieren, oder auch denen, die ihm nun alle gratulieren, die fasziniert sind von Stäblers Erfolgen, sich aber womöglich schnell wieder anderen Inhalten zuwenden? "Das ist eine gute Frage", sagt der Weltmeister, das sei nicht so leicht. "Ich versuche, mit meinen Siegen und den Emotionen danach vorzuleben, dass es sich lohnt. Vielleicht sind manche dann auch dazu bereit."

Er ist nun schon 29 Jahre alt, ob und wie lange er nach Tokio weitermacht, ist offen. Käme aber sein Nachfolger im Ringen schon bald und nicht erst in 30 Jahren, dann hätte Stäblers Leiden nicht nur Spaß gemacht, sondern auch einen Sinn.

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Quelle:
SZ vom 29.10.2018
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