Süddeutsche Zeitung

Richard Freitag bei der Vierschanzentournee:Schwere Vorwürfe an die Jury

Lesezeit: 3 min

Von Volker Kreisl, Innsbruck

Es waren die üblichen hässlichen Stichwörter des Skispringens. Kaum war die Vierschanzentournee am Innsbrucker Bergisel angekommen, da wurde wieder von der "Windlotterie" gemurmelt. Drohte wie 2017 ein mit Macht durchgepeitschtes Finale, ein Witz? Oder gar eine Absage - die Dreischanzentournee?

Nichts von diesen durchaus möglichen Innsbrucker Ärgernissen trat ein, die 66. Vierschanzentournee erlebte eine ganz andere abrupte Zäsur. Auch die war konsternierend - jedenfalls für die Deutschen, aber auch für alle, die die Spannung bei dieser Serie noch genossen hatten.

War der Anlauf bei diesem Wind zu lang?

In dieser Hinsicht ist die Veranstaltung, auf die der Deutsche Skiverband (DSV) so viele Hoffnungen gesetzt hatte, vorzeitig beendet. Sein Topfavorit Richard Freitag, der noch in Schlagnähe zum Führenden Kamil Stoch gelegen hatte, stürzte im ersten Durchgang kurz nach der Landung. Dies war eine bittere Erfahrung für den endlich in große Form gekommenen Skispringer aus Sachsen, es zeigte aber auch, wie fragil dieser Sport ist, wenn die Wettkampf-Jury an die Grenzen geht, oder darüber hinaus. Der DSV erhob jedenfalls schwere Vorwürfe: Der Anlauf sei zu lang, der Sturz vermeidbar gewesen.

Derart betrübliche Rennausgänge sind zwar längst selten geworden, diesmal aber wussten die Verantwortlichen nicht so recht, ob und worüber sie sich am meisten ärgern sollten. Zunächst, sagte der Sportliche Leiter Horst Hüttel, zähle allein die Gesundheit Freitags. Der hatte ja eine Weile gebraucht, bis er benommen aus seinen Skiern steigen und das Stadion verlassen konnte. Umgehend wurde er vom Teamarzt untersucht und verzichtete dann auf den zweiten Durchgang. Schmerzen vor allem in der Hüfte habe er, sagte Hüttel, außerdem sei er extrem niedergeschlagen: "Richard sieht sich nicht in der Lage weiterzuspringen."

Alle hoffen nun darauf, dass er sich bald fängt; obwohl die Tournee am Samstag in Bischofshofen aller Voraussicht nach mit einem Sieg des Polen Kamil Stoch zu Ende geht, stehen ja noch weitere Großveranstaltungen einschließlich Olympia bevor. Die Gesundheit und die Saison, das waren die Prioritäten. Gleich danach kommt nun beim DSV der Ärger.

Freitag hatte ja die ganze Saison über sichere Sprünge gezeigt, es wirkte, als hätte er Flugzeugtechnik an Bord. Er führt mit gewaltigem Vorsprung im Weltcup, er setzte auch im strömenden Regen in Innsbruck wieder zu einem dieser Top-Sprünge an, die jenseits des Hill Size enden, er flog wieder so weit, brachte aber die Ski nicht rechtzeitig in die parallele Position. Sein rechter Ski scherte aus, Freitag verlor die Balance, seine Beine drifteten fast in einen Spagat - dann stürzte er vornüber, drehte sich und blieb liegen.

Trotz seiner Routine hatte Freitag die Kontrolle bei der Landung verloren, hatte den eingespielten Ablauf nicht hinbekommen, und das, sagen seine Betreuer, habe auch an den Bedingungen gelegen. Es regnete in Strömen, die Sicht war miserabel, die weiße Landepiste war schwer auszumachen, hatte aber tiefe Rillen, sodass viele Springer ins Wackeln kamen. Bundestrainer Werner Schuster und Hüttel, aber auch deren polnische Kollegen auf dem Trainerstand hatten sich deshalb vorsorglich an die Jury gewandt. Die solle den Anlauf um eine Luke verkürzen, um Tempo und Weite zu kappen. Die Jury aber reagierte nicht, Schuster sagte, wegen ein paar zu kurzen Sprüngen gleich den Anlauf zu verlängern, sei falsch: "Bei solchen Bedingungen darf man nie und nimmer so weit springen lassen."

Mit dem Finger auf andere zu zeigen, könnte man auch als schlechtes Verlierertum auslegen, zumal Schuster die Chance gehabt hätte, den Anlauf selber zu verkürzen. Er hatte sich jedoch bewusst dagegen entschieden. Denn hätte der Wind nur leicht gedreht und von hinten geblasen, dann hätte Freitag womöglich nicht das Limit bei einer freiwilligen Verkürzung erreicht. Dann hätte er den Lukenbonus verloren und wäre auch ohne Sturz weit zurückgefallen. "Ich wollte Richard die Chance nicht nehmen", sagte Schuster, die Entscheidung hätte schon die Jury treffen müssen. Hüttel erwähnte zudem, dass derselbe Verantwortliche in dieser Saison schon einmal bei der Wettkampfführung zu viel riskiert habe, beim Frauenspringen in Hinterzarten, als sich Svenja Würth einen Kreuzbandriss zuzog.

Die Spannung ist nun also aus dieser Tournee gewichen. In Garmisch-Partenkirchen verabschiedete sich erst Stefan Kraft aus dem Titelrennen, nun ist auch Freitag weg. Um noch zu verlieren, müsste Kamil Stoch seinerseits stürzen, was ihm kein Gegner wünscht. Stoch erklärte, es tue ihm für Freitag "wahnsinnig leid", sagte dann aber auch etwas durchaus Wahres: "Das ist unser Sport, Situationen wie diese passieren nun mal."

Ob Freitag doch in Bischofshofen starten kann, hänge von seinen Schmerzen ab, sagte Teamarzt Mark Dorfmüller. In der Unfallklinik wurden keine schweren Verletzungen festgestellt, "momentan kann er nicht belasten, wir müssen den Tag morgen abwarten." Im Übrigen führte der Innsbrucker Regen dazu, dass noch mehr Springer patzten und es zu weiteren Verschiebungen unter den Top Ten kam. Dass deshalb plötzlich ein zweiter Deutscher, nämlich Andreas Wellinger, auf Platz zwei der Gesamtwertung rückte, weil er mit zwei exzellenten Sprüngen überraschend Dritter wurde - diese Nachricht ging fast unter an dem Tag, an dem Richard Freitag stürzte.

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SZ vom 05.01.2018
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