Süddeutsche Zeitung

Viktoria Rebensburg:"Wenn man Rennen gewinnen will, muss man am Limit fahren"

Lesezeit: 4 min

Von Johannes Knuth, Garmisch-Partenkirchen

Und dann war er wieder da: Dieser Moment, wenn alles zu einem kreischenden Halt kommt, als habe jemand mitten im TV-Krimi das Stromkabel aus dem Fernseher gerissen. 5000 Zuschauer im Ziel hatten eben noch eine Welle der Zuneigung den Hang hinaufrollen lassen, dorthin, wo Viktoria Rebensburg gerade die Bestzeit der Schweizerin Corinne Suter ins Wanken brachte. Ein kleiner Schlag reichte - und Rebensburg verlor die Kontrolle über ihren Außenski. Ihre Knie bogen sich, dass es beim Zuschauen schmerzte, sie stürzte und schlitterte ins Netz, in jener Passage, die sie auf der Kandahar die "Hölle" getauft haben.

Minutenlang war es still im Ziel. Man hörte jeden Skischuh, der sich in den Schnee bohrte. Kurz darauf leichte Entwarnung: Rebensburg rutschte aus eigenen Kräften ins Tal. Später gab sie sich große Mühe, so gewöhnlich wie möglich durch den Zielraum zu schreiten; sie gab auch zu Protokoll, dass ihr Knie zwar von der Kollision mit einer Torstange schmerze, ansonsten aber wohl "alles okay" sei. Dann humpelte sie davon.

Ein paar Stunden später erlangten die zarten Befürchtungen doch noch bleierne Gewissheit: Die 30-Jährige hatte zwar einen jener Kreuzbandrupturen vermieden, die derartige Unfälle bei den Alpinen mittlerweile mit gruseliger Regelmäßigkeit nach sich ziehen. Dafür hatte die Diagnose die zweitschlimmste Befürchtung bestätigt: Rebensburg hatte einen Schienbeinkopfbruch im linken Knie erlitten, das Innenband war überdehnt. Sie werde sechs bis acht Wochen pausieren müssen und damit den Rest der Saison verpassen, wie der Deutsche Skiverband (DSV) mitteilte. "Ich habe noch einmal Glück im Unglück gehabt", richtete Rebensburg tapfer aus; sie werde um eine Operation herumkommen. Von daher sei sie zuversichtlich, dass sie nach dem Krankenstand "wieder richtig schnell Skifahren kann".

Das letzte von vier Weltcuprennen in diesem Winter in Garmisch-Partenkirchen legte noch einmal Zeugnis darüber ab, wie eng Sieg und Schmerz im Alpinsport benachbart sind. Vor einer Woche hatte Thomas Dreßen noch Markus Wasmeier in den Armen gelegen, dem Doppel-Olympiasieger, der vor 28 Jahren als bislang einziger Deutscher auf der Kandahar-Abfahrt triumphiert hatte. Am Samstag zog Rebensburg nach, zehn Jahre, nachdem Maria Höfl-Riesch als vorerst letzte Vertreterin des DSV die Abfahrt beim Heimspiel gewonnen hatte. "Es sind so viele Gefühle und Emotionen da, das wird Wochen oder Monate brauchen, das zu verarbeiten", sagte Rebensburg. Die Vorwochen, die zeitweise von einem Bass an Störgeräuschen unterlegt gewesen waren - sie waren plötzlich weit weg. Bis das Hochgefühl am Tag darauf mit einem Schlag verdampfte.

Vor ein paar Wochen hatte Rebensburg im Gespräch noch hoffnungsvoll von ihrem Begehren erzählt, sich in drei Disziplinen in der Weltelite zu behaupten - und von allen damit verknüpften Risiken und Nebenwirkungen. Sie spüre, sagte sie, dass sie immer mehr von der Erfahrung zehre, die sie Winter für Winter auf den langen, tückischen Abfahrten sammele. Sie war zum Saisonauftakt gleich mal Vierte in der Abfahrt und Erste im Super-G geworden. Sie wollte den Riesenslalom, der ihr zuletzt etwas schwerer gefallen war, aber auf keinen Fall stilllegen, sagte sie - schon allein, weil ihr die Kurvenfertigkeiten auch in den schnellen Disziplinen zugutekommen. Und was sie auch gelernt habe: dass im höheren Skifahrerinnenalter nicht so sehr der Trainingsumfang entscheide, "sondern die Qualität".

Wolfgang Maier, der Sportdirektor der DSV-Alpinen, erklärte kurz darauf öffentlich, dass Rebensburg sowohl qualitativ als auch quantitativ mehr trainieren müsse, um den Anschluss nicht zu verlieren - er meinte aber nur den Riesenslalom, in dem Rebensburg einst Olympiagold sowie 2019 noch WM-Silber gewonnen hatte. Die Kritisierte fand das "inhaltlich und in der Art und Weise absolut unverständlich", und der Trubel, der fortan durch die Öffentlichkeit schwappte, machte ihr sichtlich zu schaffen. Die Rennen in Bansko gingen schwer daneben, man habe danach viel mentale Aufbauhilfe leisten müssen, gab DSV-Frauencheftrainer Jürgen Graller in Garmisch zu. Auch wegen des öffentlichen Tadels? Das wisse er nicht, sagte Graller diplomatisch, er könne in seine Athletin nicht hineinleuchten. Aber einem Sportdirektor stehe öffentliche Kritik schon zu, ob sie berechtigt sei oder nicht.

Rebensburg beteuerte in Garmisch, dass sie sich mit Maier in einer ruhigen Minute aussprechen wolle; im Moment tangiere sie die Debatte aber nicht. Sie sei bei ihrem Sieg höchstens von Dreßens Erfolg inspiriert gewesen - und den Prüfungsvorbereitungen der letzten Tage: "Da haben wir mit den Trainern gut gearbeitet", fand sie. In der Abfahrt hatte sie nach dem Gleitstück zu Beginn fast eine Sekunde Vorsprung auf die ersten Verfolgerinnen - da habe sie bereits gemerkt, dass die Skier, die ihr Servicemann bereitgestellt hatte, "a Rakete" waren. Das Bemerkenswerte war freilich, wie Rebensburg das Raketentempo über die Eispiste trug, auf der große Überwindung gefordert war. Sportdirektor Maier hatte gar "die schwerste Kandahar seit der WM 2011" erlebt, an der Grenze des Zumutbaren. Die Helfer hatten die vergangenen Tage viel Wasser in die Strecke gepumpt und gefrieren lassen; die schwer gezeichnete Piste wäre nach den Weltcups der Männer sonst kaum befahrbar gewesen.

Am Sonntag war die Kandahar sogar "noch a Spur glatter" als am Samstag, sagte Rebensburg. Manche Passagen waren wiederum griffiger - eine brenzlige Mischung, weil die Athleten ihre Skier nur auf einen Schneezustand abstimmen können. Rebensburg sagte, sie habe wohl auch wegen der wechselnden Untergründe immer wieder den Grip verloren, kurz nach ihr stürzte die Italienerin Sofia Goggia fast an derselben Stelle - und brach sich dabei den Arm, wie ihr Verband später mitteilte.

"Ich bin froh, dass ich unten bin. Es ist an der Grenze", bestätigte die Österreicherin Nicole Schmidhofer noch während des Rennens, in dem sie am Ende Zweite hinter Corinne Suter wurde. 17 von 54 Fahrerinnen schieden am Sonntag aus, Kira Weidle belegte als beste Deutsche Rang 21. Die 23-Jährige wird den restlichen Winter nun noch einmal stärker im Fokus stehen als ohnehin schon - Rebensburg und auch Marlene Schmotz, die Konstantesten der vergangenen Wochen, haben sich beide in den Krankenstand verabschiedet.

Es war eine bittere Pointe, die Rebensburgs Saison letztlich beendete. "Wenn man Rennen gewinnen will, muss man am Limit fahren", hatte sie noch unmittelbar nach ihrem Unfall gesagt - Stürze seien da nun mal Teil des Spiels. Rebensburg hatte diesen Tanz am Limit in der Vergangenheit nicht immer so konsequent gewagt; der Erfolg am Samstag war ihr 19. im Weltcup, der erste allerdings in der schnellsten alpinen Disziplin. Nun war es genau jene Risikobereitschaft, für die sie erst mit einem der süßesten Erfolge ihrer Karriere belohnt wurde - und die sie am Tag darauf aus dem Winter riss.

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SZ vom 10.02.2020
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