Süddeutsche Zeitung

Radsport:Der Überlebende sitzt im Sattel

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Der niederländische Profi Fabio Jakobsen war im vergangenen Sommer schwer gestürzt. Nun steht er kurz vor seiner Rückkehr - mit transplantiertem Kiefer und genähtem Gesicht.

Vor acht Monaten war nicht einmal sicher, ob Fabio Jakobsen die nächste Nacht überstehen würde. In einem polnischen Krankenhaus lag der niederländische Radprofi damals, nach einem der fürchterlichsten Stürze in der Geschichte seines Sports. Mit schwersten Kopfverletzungen, entstelltem Gesicht, nur noch einem einzigen Zahn im Mund. "In dieser dunklen Phase hatte ich Angst, nicht zu überleben", sagte er.

Dass dieser Jakobsen am Sonntag bei der Türkei-Rundfahrt sein Comeback feiern wird, kommt einem Wunder gleich. Und ist für Jakobsen selbst das größte Geschenk. "Ich bin extrem dankbar", sagte der 24-Jährige, der die schwerste Zeit seiner Karriere, seines Lebens hinter sich hat. "Selbst für jemanden in meinem Alter ist es sehr emotional, dass Fabio wieder Rennen fährt", sagt Yvan Vanmol. Der Belgier ist seit den Achtzigern als Teamarzt im Radsport tätig, hat die lange Geschichte von Jakobsens Quick-Step-Mannschaft komplett begleitet. Doch selbst den hartgesottenen Mediziner, der Jakobsen beim Weg zurück ins Leben begleitet hat, entsetzt der beinahe fatale Crash noch heute: "Ich dachte wirklich, dass Fabio auf dieser polnischen Straße stirbt." Jakobsens ganzes Leben lässt sich in die Zeit vor und nach jenem verhängnisvollen 5. August 2020 in Kattowitz einteilen, an dessen entscheidende Momente sich "Fabio nicht mehr erinnert", wie Vanmol sagt: "Er kennt den Sturz nur von den Videobildern. Es ist jedoch nicht in sein Gehirn eingraviert."

Während er zum Sieger erklärt wird, kämpfen die Ärzte um sein Leben

Es war die erste Etappe der Polen-Rundfahrt, eines der ersten Rennen nach dem Corona-Restart, die Fahrer waren sehr ehrgeizig, aber ohne Rennpraxis, das Finale war hektisch. Im Sprint um den Sieg drängt der Niederländer Dylan Groenewegen seinen Landsmann auf der wegen ihrer Gefährlichkeit kritisierten abschüssigen Zielgeraden in die Streckenbegrenzung, Jakobsen fliegt mit Tempo 80 gegen die Zielaufbauten, verschwindet in den Trümmern. Während er nach Groenewegens Disqualifikation zum Sieger erklärt wird, kämpfen die Ärzte um sein Leben - zunächst auf dem Asphalt an der Kreuzung, "die Retter an der Ziellinie haben mir das Leben gerettet", sagt Jakobsen, schließlich im Krankenhaus.

Erst als der am Kopf verletzte Jakobsen nach zwei Tagen aus dem künstlichen Koma erwacht, ist die unmittelbare Lebensgefahr gebannt. Heute, nach einem halben Dutzend Operationen, ist er wieder voll hergestellt. Sein mit 130 Stichen geflicktes Gesicht, wirkt noch etwas unnatürlich, sein neuer Kiefer, aus Jakobsens Beckenknochen modelliert, enthält provisorische Kunstzähne. "Das wird noch ein paar Monate dauern, bis alles verheilt ist und ich meine neuen Zähne bekomme", sagt Jakobsen. Das kann er, der so viel schon geschafft hat, verschmerzen; jeden Rennkilometer in der Türkei will er genießen. Und seinen Sprinterinstinkt hat er nicht verloren. Er werde sich nicht vor einem Massensprint fürchten, sagt Doktor Vanmol: "Fabio ist bereit für den Wettkampf." Dem Sturzverursacher Groenewegen wird Jakobsen in der Türkei nicht begegnen - er ist wegen des Vorfalls noch bis Mai gesperrt.

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