Süddeutsche Zeitung

Premier League:Nur noch in der Defensive

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Nach dem verlorenen London-Derby wird beim FC Chelsea wieder über Trainer Conte debattiert.

Von Sven Haist, London

Dele Alli wusste, dass ihm gleich alles an Abneigung drohen würde, was sich auf Fußballtribünen in Gesten und Worten ausdrücken lässt. Aber das hielt den 21 Jahre alten Spielmacher der Tottenham Hotspur nicht davon ab, den Führungstreffer im London-Derby gegen den FC Chelsea vor den rivalisierenden Fans zu bejubeln. So wie es Chelseas Eden Hazard im Mai 2016 in umgekehrter Weise getan hatte nach seinem späten Ausgleichstor. Das Unentschieden zerstörte damals die Resthoffnungen der Spurs, den späteren Meister Leicester City an der Tabellenspitze abzufangen. Alli hielt sich also direkt vor der Tribüne die rechte Hand provozierend ans Ohr, als wolle er wirklich genau verstehen, was die aufgebrachte Menge ihm entgegen brüllt, als wolle er es hören. Tags darauf titelte das Massenblatt Sun: "HEARO!"

Statt auf Talente setzt Conte lieber auf teure Transfers - doch das will Roman Abramowitsch nicht mehr

Der Mann mit der Nummer "20" auf dem Rücken erinnerte durch seine beiden Tore (62./66.) beim 3:1 über Chelsea an die eigenen, außerordentlichen Fußfertigkeiten, die zuletzt, mitunter durch Disziplinlosigkeiten, etwas in Vergessenheit geraten waren. Einen Pass aus der eigenen Hälfte nahm Alli im gegnerischen Strafraum in der Luft an und schob den Ball mit der zweiten Berührung über die Torlinie, ein Kunstwerk. Beim nächsten Tor zog Alli wie beim Tischkicker den Ball mit dem linken Fuß nach hinten, ehe er ihn mit rechts im Netz platzierte. In 100 Premier-League-Spielen hat Alli nun 36 Tore geschossen, dazu 25 Torvorlagen gegeben. "Ich freue mich sehr für ihn, weil er das verdient. Einfach ein großartiges Talent, an das wir manchmal zu hohe Erwartungen haben", sagte Tottenhams Trainer Mauricio Pochettino. Alli beendete den 28 Jahre währenden Fluch der Spurs, nicht mehr an der Stamford Bridge gewonnen zu haben. Beim vorherigen Erfolg im Februar 1990 war er noch nicht geboren, ebenso wie zwölf seiner Mitspieler aus dem Aufgebot vom Sonntag. Der Sieg im direkten Duell um die Teilnahme an der Champions League vergrößert nun den Abstand im Klassement zwischen Tottenham auf Rang vier und dem fünftplatzierten Chelsea auf acht Punkte. An den verbleibenden sechs Spieltagen ist das kaum noch aufzuholen. Sinnbildlich für die gegenläufige Entwicklung der beiden Klubs war es, dass in Alli ein Nachwuchsprofi, den Tottenham vor drei Jahren bei Milton Keynes Dons in der dritten Liga entdeckt hatte, den aktuellen englischen Meister in eine Sinnkrise stürzte. Anstatt ebenfalls Talente zu fördern, setzt Chelsea vor allem auf kostspielige Transfers, die eigentlich den sofortigen Erfolg garantieren sollen. Das Problem an dieser Strategie ist, dass Roman Abramowitsch, der russische Eigentümer, nicht mehr bereit zu sein scheint, sein Privatvermögen auszugeben für teure Investitionen in den Kader. Und Trainer Antonio Conte wiederum, der erfolgshungrige Italiener, sich der neuen Klublinie widersetzt, unerfahrenen Profis eine Chance zu geben. Bislang hat sich in Contes Amtszeit aus dem Nachwuchspool nur der Däne Andreas Christensen, mit 21 der Jüngste im Kader, konstant in die Startelf gespielt - auch weil die arrivierten Gary Cahill und David Luiz lange gesperrt ausfielen. Zuletzt ließ Conte Stürmer Michy Batshuayi auf Leihbasis zu Borussia Dortmund ziehen, um den gestandenen Angreifer Olivier Giroud vom FC Arsenal holen zu können. Mit der Übernahme des Klubs durch den Oligarchen Abramowitsch im Sommer 2003 hat sich Chelsea zu einem Klub entwickelt, der keinen Misserfolg duldet. Der Verein definiert sich ausschließlich über den Gewinn von Titeln. Das fällt besonders im Kontrast zu den Ligarivalen Manchester City und FC Liverpool auf, die dabei sind, sich durch ihre Spielweise eine eigene Identität zu geben und folgerichtig an diesem Mittwoch im Viertelfinale der Champions League aufeinandertreffen. Der FC Chelsea besitzt nach wie vor nicht viel mehr als die Philosophie des ewigen Gewinnenwollens. Dieses Konzept kennt keine Geduld und auch keine zweite Chance. Das hat den Blues immerhin fünf Meisterschaften, vier FA-Cup-Titel und 2012 den sehnlich erwarteten Sieg in der Champions League beschert. Gekostet hat es allerdings den kontinuierlichen Erfolg. Auf jedes Hoch folgte schnurstracks ein Tief, auch jetzt wieder unter Conte. Als Titelträger hechelt der Klub dem Tabellenführer Manchester City um 28 Punkte hinterher, im Achtelfinale der Königsklasse war der FC Barcelona zu stark (Hinspiel 1:1, Rückspiel 0:3). In den vergangenen 15 Jahren wurde bei den Blues stets der Trainer entlassen, wenn die Ergebnisse nicht stimmten. Davon blieb Conte, ausgestattet mit einem Vertrag bis Sommer 2019, bislang verschont. Doch die Niederlage gegen Tottenham setzte umgehend die bekannte Automatik in Kraft. "Das müssen sie den Klub fragen, und nicht mich. Der Verein trifft die Entscheidung", wehrte Conte alle Fragen nach seinem Verbleib ab: "Ich habe keine Sorge um meinen Job. Ich arbeite 24 Stunden am Tag für Chelsea." Mit der Umstellung auf eine Dreierkette in der Abwehr hatte Conte zu Beginn seiner Tätigkeit in London die Premier League überrascht und die Formation mit der Zeit perfektioniert. Fortschrittliche Lösungen im Spiel nach vorne bot er jedoch nie an. Dieses für Europas Spitzenfußball antizyklische Vorgehen ließ die Konkurrenz auf der Insel am FC Chelsea vorbeiziehen. Jetzt auch Tottenham Hotspur.

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Quelle:
SZ vom 03.04.2018
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