Süddeutsche Zeitung

Pferdesport:Silber unter Staub

Lesezeit: 6 min

Seit die Online-Wettanbieter nach vorne geprescht sind, bleiben den gemütlichen Trabrennbahnen von Jahr zu Jahr weniger Umsätze. Manche kommen trotzdem nicht los von ihrem Sport. Ein Besuch in Daglfing.

Von Hans Christoph Böhringer

"Schnelle Pferde / Großer Gewinn / Versuch dein Glück / in Daglfing"

Eine Postkarte mit diesem Spruch hätte 1976 freien Eintritt gewährt auf der Trabrennbahn in München. Für zwei Personen, in erster Reihe, bei den beliebten Abendrennen, verspricht die Karte. Auf der Vorderseite: Pferdegespanne ziehen vorbei an einer funkelnden Tribüne, vorbei an den Menschenmassen.

Heute wissen die Massen nicht einmal, dass es noch Rennen gibt in Daglfing, auf der 118 Jahre alten Bahn. Eine Freikarte wäre sinnlos: Den Eintrittspreis hat der Rennverein vor Jahren abgeschafft, aus Angst, niemand würde mehr kommen. Ein paar hundert Stammgäste besuchten zuletzt noch die Renntage. Wegen der Pandemie fehlen auch sie. Doch der Betrieb läuft weiter, ohne Siegesparade, ohne Wurstverkauf, läuft weiter in der Kälte und im Matsch.

Still ist es auf der Bahn kurz vor einem Rennstart. In die Stille dringt das Schnauben der Traber, das Klopfen der Hufe im nassen Sand, und leise rumpeln die Räder. Auf einmal setzt Musik ein und das Starterauto beschleunigt, die Gespanne hinterher, die Musik schwillt an, dann erklingt das Signal: Das Rennen hat begonnen. Die Stimmen der Kommentatoren dröhnen aus den Lautsprechern der verwaisten Tribüne, hallen in den leeren Rängen.

In enger Spur rennen die Pferde, stoßen Wolken aus ihren Nüstern, und hinter jedem Pferd kauert ein Fahrer in einem Sulky, einem aus wenigen Stangen gebauten Wägelchen. Die Kolonne prescht vorbei an einer kleinen Plattform, vorbei an Robert Gramüller, vorbei an Liza Marlow.

Den Rennen zuzuschauen, ist eine der wenigen Pausen, die Marlow sich an diesem Sonntag gönnen kann. Sie ist es gewöhnt, arbeitet seit zwölf Jahren als Pferdepflegerin im Trabrennsport. Im Herbst hat sie bei Gramüller angefangen. Obwohl sie nicht bleiben will in der Pferdewirtschaft.

Robert Gramüller ist seit 50 Jahren beim Trabrennsport, seit 45 Jahren ist er Trabertrainer, also Meister. Er beobachtet die Rennen, in denen die Pferde laufen, die er und sein Geschäftspartner trainieren.

Am Renntag gibt es nur wenig Gelegenheit, mit Gramüller zu sprechen. Ein paar Tage später sitzt er nach einer Trainingsfahrt in der Küche seines Stalls, wärmt sich auf und erzählt, wobei immer wieder ein verschmitztes Lächeln über sein wettergegerbtes Gesicht huscht. Er erzählt von den guten Zeiten: als Günther Jauch beim Promi-Rennen in den Sulky stieg. Als man nicht zur Barriere durchkommen konnte, so dicht war die Zuschauermenge. "Alle Schichten haben sich da getroffen", sagt Gramüller, "Politiker, Wirtschaftsleute, auch das Milieu."

Er will ein Foto zeigen von damals, muss es suchen. Überall im Stall hängen Fotos von großen Erfolgen. Pokale stehen herum, auf einer Waschmaschine neben Vollwaschmittel, oben auf einer Trennwand, Silber und Gold unter Staub und Spinnweben. Schließlich findet Gramüller das Foto, es ist an eine Tür geklebt: Sein vor einigen Jahren verstorbener Bruder Josef ist darauf zu sehen, im Jahr 1986, beim Bayrischen Jugendpreis. Wie ein Popstar in knallgrüner Jacke führt er sein Pferd, mit Goldkranz behangen, vorbei an der Menge, aus der sich Hände strecken über die Barriere, im Jubel eingefangen.

Die guten Zeiten sind lang vorbei. Doch es bleiben über 200 Trabertrainer in Deutschland. Noch gibt es Menschen wie Robert Gramüller, die davon träumen, einmal das Traber-Derby in Berlin zu gewinnen. Nicht des Geldes wegen, sagt er. Wegen des Ruhmes.

Geld fehlt dem Sport. In den Neunzigern sind die Online-Wettanbieter nach vorn geprescht, seitdem bleiben den eher gemütlichen Trabrennbahnen von Jahr zu Jahr weniger Wettumsätze. Damit schrumpfen die Preisgelder, von denen die Profis früher leben konnten. Heute müsste ein Spruch auf einer Postkarte für den Beruf lauten:

Trainiere Pferde / Kaum Gewinn / Wo das Glück? / Was der Sinn?

"Die guten Zeiten kannten wir sowieso nicht", sagt Liza Marlow. Sie ist dreißig. Aus ihrem Lehrjahrgang haben die meisten bereits aufgehört. Das plant sie auch: "Mit fünfzig noch Boxen ausmisten, darauf habe ich keine Lust." Auf Dauer ruiniere der Beruf die Schultern, sagt Marlow. Freizeit habe man kaum: Sechs Tage die Woche schuften, morgens die Pferde zum Training rausbringen, pflegen bis abends. Pferde kennen kein Wochenende. Und am Wochenende, da sind meistens die Renntage. "Da wird es richtig hektisch", sagt sie.

Mittags am Renntag ist Marlow für Hektik gekleidet: ihre blonden Haare im Pferdeschwanz, ein Stirnband darunter, dunkle Stallkleidung. Auf dem Sprung von einem Stall in den anderen fällt eine Kippe in den Matsch neben ihren Stiefeln und wird oben durch eine neue ersetzt. Beim Einspannen eines Pferdes hängt Marlow die Zigarette mittig im Mund, sie gurtet und zurrt, sie raucht und spricht wenig.

Liza Marlow ist in Berlin aufgewachsen, nahe der Trabrennbahn Karlshorst, einer der acht verbleibenden Hauptbahnen in Deutschland. Dort hat sie als Jugendliche ausgeholfen, als "Pferdemädchen", wie sie erzählt. Nach der Schule machte sie ihre Lehre in Bayern als Pferdewirtin, spezialisiert auf Trabrennen. Damit war sie Berufstrabfahrerin. Die Illusion von einer "rosa Ponywelt" habe sie verloren, sagt sie. Aber das sei bei einem Sport wohl normal.

Kurz vor dem ersten Rennen kommt Robert Gramüller in den Stall und stellt einen großen, dampfenden Topf auf den Tisch. "Liza, haste Zeit?" Sie nickt. Gulaschsuppe.

Gramüller weiß von Marlows Plänen abseits vom Trabrennsport. "Es ist ein harter Sport", sagt er, "das ist ein harter Beruf. Und die Frauen setzen dann andere Prioritäten, wollen Familie."

"Ein Scheißjob", so habe Gramüller es seinem Lehrmädchen erklärt. "Da muss man einen Idealismus mitbringen", sagt er. Und pferdeverrückt müsse man sein: Sein Geschäftspartner - "verrückt". Sein Sohn - "würde einen Arm geben für einen Derbysieg". Liza Marlow - "auch eine Verrückte, auch eine Pferdeverrückte". Deshalb komme sie nicht weg von den Pferden, das hofft er jedenfalls. "Man kommt nicht los. Wie mit Drogen. Oder mit dem Scheiß hier." Er lacht und deutet einmal mit der Zigarette in seiner Hand, bevor er anzündet.

Für immer Pferde / Vergiss Gewinn / Du brauchst kein Glück / Verrückt bleibt drin

Ist das der Spruch für die Postkarte der Zukunft des Trabrennsports? In Daglfing wurde das Rennbahngelände bereits vor 15 Jahren verkauft, wegen Verschuldung, Wohnbaugebiet soll daraus werden. Der Trabrenn- und Zuchtverein hat ein Bleiberecht ausgehandelt, bis 2026, danach: wer weiß.

Der Puls der Rennbahn an diesem Wintertag ist niedrig, selbst während eines Rennens. Wie ein großes Tier, das in extremer Kälte durchhält, liegt sie da. Noch steht ihr monumentales Tribünengebäude, wo in der Klubetage stapelweise Wettscheine auf den Tischen liegen. Das Drittel des Wettumsatzes, das in den vergangenen Jahren noch offline gemacht wurde, fehlt der Bahn in Pandemiezeiten. Statt den Zockern gibt es hier nur einen, der zuruft und anfeuert, der mit der flachen Hand gegen die Barriere donnert: Gramüllers Sohn Marcus.

Der "Racing Manager": Er kümmert sich um die auswärtigen Rennen, für die Pferde, die sein Vater trainiert. Wenn man Marcus Gramüller Tage später erreicht, am Telefon, dann ist er auf dem Weg nach Wien, zu einem Rennen. Gibt es Hoffnung für den Sport? Kurz ist er still. "In Deutschland leider nein", antwortet er. In Italien, in Frankreich, in Schweden, da sei der Sport noch groß.

Mit weniger Zockern sinken die Preisgelder, die Züchter darben, der Pferdenachwuchs schrumpft und damit die Rennen. Der Racing Manager schwärmt von Großwetten wie in Schweden, wo man mit kleinem Einsatz auf mehrere Pferde Millionen gewinnen könnte - zumindest theoretisch. "Wenn keine Fantasie da ist, warum dann wetten?"

Für einen Außenstehenden ist Trabrennen ein Sport, bei dem Eleganz und Komik nahe beieinander liegen, wie beim olympischen Gehen. Galopp ist verboten, dennoch rennen die Pferde mit bis zu 50 Stundenkilometern. Zum vierten Rennen des Tages sitzt Liza Marlow im Sulky. Vor ihr läuft sich "Blue Edition" warm. Von hinten betrachtet gleicht das Gespann einem Fabelwesen: ein menschlicher Oberkörper auf tänzelnden Pferdebeinen.

Marlow schafft es auf den zweiten Platz. Aber Erfolg bei den Rennen ist für sie nicht das Kriterium zu bleiben. Ihr Plan B steht: zum Flughafen, an den Schalter. 2012 schon wollte sie neu anfangen beim Berliner Flughafen, als dieser wieder einmal kurz vor der Eröffnung schien. Marlow stimmt zu, für den Trabrennsport müsse man pferdeverrückt sein, sonst könne man das nicht machen. Sie will raus aus der Pferdewirtschaft, aber nicht weg von den Pferden. Irgendwann, hofft sie, werde sie sich ein Rennpferd kaufen.

Ein Zocker brennt für das Pferd, das zwischen Start und Ziel seines ist. Doch der echte Pferdebesitz, das ist die Glut des Trabrennsports. Es ist eine Glut, die viel frisst, vor allem Geld. Um die Hürde zu senken, schuf Gramüllers Team eine Trabergemeinschaft, bei der bis zu zwanzig Partien ein Pferd gemeinsam besitzen. Ein Erfolg, sagt Marcus Gramüller. Auf die Frage, ob er selbst Pferde besitze, antwortet er aber: "Ja. Leider." Auch sein Vater antwortet auf dieselbe Frage: "Leider ja." Weshalb? Er lächelt. "Wenn du da mal drin bist, kommst du nicht mehr raus."

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