Süddeutsche Zeitung

Paralympics:"Man muss auch lernen, im Regen zu tanzen"

Lesezeit: 6 min

Bei den Paralympischen Spielen startet die Radsportlerin Denise Schindler, 35, mit Medaillenchancen. Vor dem Aufbruch spricht sie über ihre Erwartungen an Tokio, aber auch über Lebensfreude und ihre Erfahrungen mit ihrer Behinderung, über die sie ein Buch geschrieben hat.

Von Sebastian Winter

SZ: Frau Schindler, Ihr Flug nach Tokio zu den Paralympics steht bevor. Wissen Sie, was Sie dort erwartet?

Denise Schindler: Wir sind für die Bahnwettbewerbe völlig außerhalb in Izu, was mit Tokio, das muss man so ehrlich sagen, nichts zu tun hat. Drei Stunden sind es von dort mit dem Schnellzug. Wir sind deshalb auch nicht im olympischen Dorf, sondern in einem eigenen Dorf nur für die Radsportler. Der Straßenkurs ist am Fuße des Mount Fuji am Fuji International Speedway, einer Motorsport-Rennstrecke. Der Kurs dort ist sehr wellig, was man gar nicht erwarten würde auf den ersten Blick. Für das Straßenrennen verlassen wir den Speedway, fahren in die Berge - da kommt was auf uns zu. Bahnrad ist auf der anderen Seite des Speedways im Izu Velodrome.

Wie ist das, drei Stunden entfernt von Tokio?

Es ist schon schade, so weit weg zu sein. Als wir Radsportler das am Anfang gehört haben, war die Enttäuschung zu spüren. Denn gerade die Atmosphäre im Paralympischen Dorf macht die Magie der Spiele mit aus. Jetzt mit der Pandemie kann es aber vielleicht sogar ein Vorteil sein, dass wir nur in der Fahrrad-Blase leben und somit deutlich weniger Kontakte haben.

Haben Sie generell Respekt vor dieser Reise?

Ich glaube, man redet sich viel zu viel negativ. Wir leben dort in einer Bubble, klar, aber ich war nun auch schon bei zwei Spielen - und nie zum Sightseeing irgendwo, weil ich von Anfang bis Ende Wettkämpfe hatte. Klar ist es unangenehm, wenn ich weiß, ich darf nirgendwohin. Natürlich fehlt die große Sause, wenn man eine Medaille hat, es fehlt das deutsche Haus, das immer die Sportler zusammengebracht hat. Andererseits sind wir Leistungssportler, wir fahren dorthin, um unsere beste Leistung zu zeigen. Ich verstehe die Skepsis, die Angst, der japanischen Bevölkerung vor der Einreise so vieler Athleten aus aller Welt. Aber man muss auch dem Organisationskomitee größten Respekt zollen für die Maßnahmen vor Ort, um sichere Spiele gewähren zu können. Die Vorkehrungen suchen ihresgleichen. Wir dürfen nur nach zweimaligem negativen PCR-Test einreisen, werden ab Tag eins in Japan jeden Tag getestet und im Falle eines positiven Tests sofort isoliert. Eine Corona-Welle kann dadurch nicht entstehen.

Wie bereit fühlen sie sich eigentlich jetzt kurz vor dem Start? Sie fahren drei Rennen, Verfolgung (Bahn), Zeitfahren (Straße) und das Straßenrennen.

Die erste Woche im Höhentrainingslager lief gut, die zweite leider nicht ganz so, weil ich eine Entzündung in meinem Stumpf hatte aufgrund der hohen Belastungen. Es war zuletzt nicht ganz einfach, ich hatte viel mit Entzündungen am Stumpf in der Prothese zu kämpfen, das war auch mental sehr herausfordernd. Eigentlich lag der Fokus auf der Bahn, aber das haben wir deswegen umgestellt und ein zweites Höhentrainingslager angeschlossen.

Gold fehlt noch in Ihrem paralympischen Medaillensatz. Ist das Ihr Ziel?

Natürlich ist es für mich ein Traum, noch eine Goldmedaille zu holen, aber da bin ich auch demütig. Ich war schon zweimal bei den Spielen, jede Medaille, die man dort holt, ist sehr wertvoll, nicht nur Gold. Ich denke, in der Verfolgung auf der Bahn habe ich eine Medaillenchance, im Straßenrennen auch. Im Zeitfahren wird es eher schwierig, weil der Kurs rauf und runter geht und sehr technisch ist - ich mag es lieber flach und geradeaus.

Was war anders in Ihrer Vorbereitung als vor London 2012 und Rio 2016? Alles?

Vieles. Vor allem seit der Pandemie. Man hatte keinen geregelten Wettkampfplan, ich war im Winter in einem einzigen Trainingslager auf Fuerteventura, ansonsten war ich zu Hause im Keller auf der Rolle oder bei Minusgraden draußen auf dem Mountainbike. Das hat mental auch viel Kraft gekostet. Wie die ewigen Diskussionen, finden die Spiele statt, finden sie nicht statt. Ich habe für mich irgendwann einfach beschlossen, dass sie stattfinden. Punkt.

Wie sehr hat das Jahr Verspätung an Ihnen genagt?

Damals ist mir eher ein Stein vom Herzen gefallen, weil ich die Austragung der Spiele im letzten Jahr nicht hätte vertreten können. Es gab dringendere Dinge auf der Welt. Als Leistungssportlerin dann nochmal ein Jahr länger auf Olympia zu warten, das Niveau zu halten, ist aber auch eine Ansage - ich bin immerhin 35 Jahre. Aber es war schön, auch mal länger daheim in Olching zu sein, ich habe die Zeit genutzt, auch für mein Buch, in dem es um das Thema Resilienz geht, und habe viel trainiert. Ich habe Kraft und Energie getankt.

Johannes B. Kerner hat im Vorwort zu Ihrem neuen Buch "Vom Glück, Pech zu haben" geschrieben: "Ein Tipp: Verabreden Sie sich nicht zu einer Fahrradtour mit ihr. Nach wenigen Metern ist sie nur noch am Horizont zu sehen." Haben Sie ihn wirklich so schnell abgehängt?

(lacht) Er ist wirklich sehr sportlich, aber eher beim Laufen als beim Radfahren. Natürlich macht es auch mal Spaß, andere abzuhängen, dafür bin ich Radfahrerin.

Sie haben dort auch Ihren Unfall beschrieben, als sie als Zweijährige in Ihrem Geburtsort Chemnitz von einer Straßenbahn erfasst wurden. Sie sagen, Ihr Leben war danach vielleicht etwas ungemütlicher. Das klingt sehr lapidar für jemanden, der ein Bein verloren hat und der als Kleinkind monatelang auf der Intensivstation lag - mit 13 Operationen, die folgten.

Das ist mein Rezept, dass ich Dinge im Leben angenommen und weitergemacht habe. Meine Eltern haben den Unfall nie zum großen Thema gemacht, sie haben mich nicht in Watte gepackt, sondern streng rangenommen. Natürlich ist es nicht fair, dass einem so etwas als kleines Kind passiert. Anderseits: Was ein Glück, dass ich noch am Leben bin. Es ist auch nicht immer einfach, mit den Entzündungen am Stumpf, die immer wieder kommen. Das bedeutet, dass ich wieder im Rollstuhl sitze, an Krücken gehe, Prothesen anpassen lassen muss. Es ist nicht einfach irgendwann vorbei, Prothesenträger bleibt man ein Leben lang. Auch wenn durch die Technik schon sehr viel möglich gemacht worden ist.

Trotzdem ist Ihr Buch auch ein Aufruf zu viel Lebensfreude.

Gerade deswegen. Ich versuche, ständig Lösungen zu finde, ein bisschen mehr noch als jemand, der zwei Beine hat. Es ist schön zu sehen, was alles möglich ist, wenn man sich keine Grenzen setzt und nicht in Selbstmitleid verfällt. Zum Beispiel die Tour Transalp zu fahren, mit eineinhalb Beinen als Frau, sieben Tage, eines der krassesten, härtesten Alpenrennen für jedermann. Das erfüllt mich mit Stolz, das sind Erlebnisse, die kann mir keiner nehmen. Mein Leben ist sehr reich, an Erlebnissen, schönen Momenten und Dingen, die ich geschafft habe.

Sind Sie eigentlich schon mal an der Stelle vorbeigegangen, in Chemnitz, wo der Unfall passiert ist?

Gar nicht. Das habe ich überhaupt nicht in mir, dass ich darüber nachdenke, was wäre wenn. Es ist, wie es ist. Es gibt für mich ohnehin keine Erinnerung an den Unfall, nur aus Erzählungen, daher würde sich für mich auch nichts ändern, wenn ich an den Platz zurückgehe. Der Straßenbahnfahrer konnte auch gar nichts dafür, es war nicht seine Schuld, ich hoffe, dass er nie ein Trauma davongetragen hat. Das ist für mich eher schlimm: Dass es anderen Menschen wegen mir schlecht ging. Dass auch meine Mama mit diesen Eindrücken und Bildern leben muss. Das würde ich ihr gerne nehmen.

Ihre Eltern haben Sie ziemlich gefordert, schildern Sie.

Ich habe sie auch nicht immer gemocht dafür als Kind. Inzwischen bin ihnen sehr dankbar. Zuviel Mitleid ist nicht gut, sie haben mir da viel vorgelebt, ich habe diese kämpferische Mentalität aber auch in mir. Eines ist aber klar: Man muss sich jeden Tag aufs Neue dafür entscheiden, mit dieser Behinderung und allen Herausforderungen des Lebens umzugehen. Das braucht Zeit, ich war nicht von heute auf morgen so selbstbewusst. Der Sport hat mir dieses Selbstbewusstsein gebracht.

Ist es etwas anderes, mit zwei Jahren diesen Unfall gehabt zu haben, als mit 16 oder 26?

In jedem Fall. Wenn man im Leben steht und hat den Unfall, dann gibt es ein Vorher und Nachher, man muss dann loslassen können. Ich wurde als behindertes Kind groß, hatte dieses Vorher und Nachher nicht, aber die Schule und Kinder um mich herum, die nicht sehr nett sind. Da wird nachgerufen, gelästert. Wenn man Teeny ist und nichts hat, wird man ja schon gehänselt. Wenn man als einzige im Dorf eine Behinderung hat, wird es nicht besser. Den Kopf zwischendurch mal in den Sand stecken, gehört dazu, man kann ja nicht 24 Stunden und sieben Tage die Woche Super-Woman sein. Es gibt Momente, in denen man keine Kraft hat, da ist es so wichtig, Familie und Freunde zu haben, diese Leuchttürme und Fixsterne. Aber dann muss das Krönchen wieder gerichtet werden.

Sie haben einige Geschichten von Prominenten geschildert, die auch vom Schicksal gebeutelt wurden, wie Teresa Enke, die Frau des Fußball-Torhüters Robert Enke, oder Gewichtheber Matthias Steiner.

Solche Geschichten inspirieren auch mich. Tolle Menschen und starke Charaktere entstehen auch durch das Mosaik, das sich im Leben zusammensetzt. Das sind Figuren, die einen Umweg gegangen sind, bei denen nicht immer alles nur bergauf und geradeaus ging. Das Leben läuft nicht immer nach Plan. Man muss auch lernen, im Regen zu tanzen.

Denise Schindler kam als Zweijährige im damaligen Karl-Marx-Stadt bei Eis und Schnee unter eine Straßenbahn, woraufhin ihr der rechte Unterschenkel amputiert werden musste. Seit 2010 ist Schindler Leistungssportlerin. Bei den Sommer-Paralympics in London gewann sie die Silbermedaille im Straßenrennen, in Rio Silber im Einzelzeitfahren und Bronze im Straßenrennen. Außerdem ist sie dreimalige Weltmeisterin. Gemeinsam mit einem Software-Unternehmen arbeitet sie an der Entwicklung eines Laserscan-Verfahrens, bei dem mit 3D-Druck Prothesen produziert werden können. Auf der Hannover Messe 2016 stellte sie dieses Verfahren dem US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel vor. Schindler lebt mit ihrem Ehemann in einem Haus in Olching und unterstützt EISs-Projekte im Raum München, die Sportangebote für Kinder mit und ohne Behinderung ermöglichen.

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