Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Norman Hunter:Der Beinbeißer

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Der englische Verteidiger Norman Hunter, Weltmeister von 1966, war berüchtigt für seine Härte - und hätte 1975 mit Leeds den Landesmeister-Titel gegen den FC Bayern verdient gehabt. Nun ist er an den Folgen einer Corona-Erkrankung gestorben.

Nachruf von Javier Cáceres

Dass Norman Hunter ein Spieler wurde, der, wenn man einen Euphemismus bemühen wollte, gut austeilen konnte, war womöglich auch eine Frage des Erbguts. Dies legen jedenfalls Äußerungen von Judith Hurst nahe, der Ehefrau von Geoff Hurst, dem englischen Finalhelden der Weltmeisterschaft von 1966; er erzielte beim 4:2-Sieg gegen Deutschland unter anderem das berühmte Wembley-Tor. Im Buch "Journey to Wembley" erzählte Judith Hurst also 1977, sie sei aufgestanden und habe die Fans böse angeschaut, die ihren Geoff verunglimpften. In vergleichbaren Situationen habe Hunters Mutter, "wenn Fans ihren Norman ausbuhten, mit ihrer Handtasche zugeschlagen".

Der Apfel fiel wirklich nicht weit vom Stamm. Die Fans von Leeds United trugen 1972 beim Finale des FA Cups ein Transparent, auf dem Norman Hunter mit dem Spitznamen bites yer legs geadelt, sprich: auf einen Namen von aristokratischer Uferlosigkeit umgetauft wurde: Norman-beisst-Dir-in-die-Beine-Hunter. Dieser Name passte, er wies ihn aus als den archetypischen Vertreter des testosterongeladenen Spielers. Am Freitag verstarb Hunter an den Folgen einer Corona-Erkrankung. Er wurde 76.

Wie sehr sich der Sport verändert hat, das kann man an einer legendären Sequenz von 1975 erkennen. Leeds United traf auf Derby County; und Derby-Stürmer Francis Lee versuchte, in einem Zweikampf mit Hunter einen Elfmeter zu schinden. Hunter wollte ihn mit Blicken töten. Später, in der zweiten Hälfte, trafen die beiden erneut aufeinander, doch diesmal endete die Sequenz mit einer rechten Geraden Hunters ans Kinn von Lee. Der Stürmer ging in die Knie, musste aber nicht angezählt werden und wälzte sich auch nicht, als wolle er sich selbst panieren, sondern stand trotz blutender Lippe direkt wieder auf. Der Schiedsrichter schien zu zögern, was tatsächlich die Frage aufwarf, ob er Hunter wirklich vom Platz stellen würde. Er tat es, erst recht, als Lee und Hunter zur zweiten Runde zusammenfanden, obschon andere Spieler noch versuchten, den Referee dazu zu bewegen, die Situation per Handshake zu bereinigen.

Eine dritte Runde hätte es ebenfalls fast gegeben. Nach der Partie gingen sie unabhängig voneinander in den selben Pub, und als ein Kamerad Hunter riet, die Kneipe zu verlassen, antwortete er: "Okay. Wir nehmen nur ein Schnelles. Aber vergewissere dich, dass Lee die Botschaft erhält: Ich habe keine Angst vor ihm."

Hunter, der als 15-Jähriger die Schule abbrach, um Elektroinstallateur zu werden, kam als Jugendlicher zu Leeds United. Er galt als körperlich schwach, wurde mit rohen Eiern und Sherry zum Frühstück gemästet und debütierte 1962 als Innenverteidiger im ersten Team. Er spielte an der Seite (und stand im Schatten) von Jack Charlton, machte am Ende aber mehr Spiele für Leeds als der ältere Bruder des legendären Bobby Charlton - nahezu unübertroffene 726 Partien. Hunter war beim Aufstieg in die erste Liga dabei, gewann zwei englische Meisterschaften, ebenso viele Messepokale, einen League Cup, einen Charity Shield und einen FA Cup. Einem Erfolg im Europapokal der Landesmeister, dem Vorläufer der Champions League, aber trauerte er sein Leben lang hinterher.

In der WM-Qualifikation 1973 leistete Hunter sich einen fatalen Bock

1975 bestritt Hunter das legendäre Finale von Paris, als Leeds einen hasenfüßigen FC Bayern, den damaligen Titelverteidiger, in Grund und Boden spielte. Beim Stand von 0:0 versagte der vor einem Monat verstorbene französische Schiedsrichter Michel Kitabdijan Leeds zwei durch Franz Beckenbauer verursachte Elfmeter (Handspiel, Foul an Allan Clarke); in der zweiten Hälfte setzte er noch einen drauf, als er einen offenkundig regulären Treffer wegen Abseits aberkannte. Erst danach trafen Franz "Bulle" Roth und Gerd "Bomber" Müller zum 2:0-Endstand.

Auch Hunters Karriere im Nationalteam - 28 Einsätze - stand nicht immer unter einem guten Stern. Er wurde zwar 1966 ohne Finaleinsatz Weltmeister; in Mexiko 1970 wurde er im Viertelfinale gegen Deutschland eingewechselt und konnte im Grunde nur noch zusehen, wie Deutschland einen 0:2-Rückstand drehte (Endstand: 2:3 n.V.). Schwerer wog, dass er 1973 mit England die Qualifikation für die WM 1974 in Deutschland verpasste. Denn Hunter, der zeitlebens dafür zuständig war, den Ball einem Spieler zu geben, der etwas damit anzufangen wusste, leistete sich im Qualifikationsspiel gegen Polen einen fatalen Bock; die Polen fuhren durch das daraus resultierende 1:1 von Jan Domarski nach Deutschland und wurden dort Dritter.

"Mir wurde nie die Chance gegeben, das zu vergessen. Denn wen zogen wir alle vier Jahre in der Auslosung, wenn wir versuchten, uns für eine WM zu qualifizieren? Das verdammte Polen. Unglaublich!", sollte Hunter Jahre später erzählen. Jetzt wurde er Opfer eines "knirschenden Tackles dieses hässlichen Virus", dichtete der frühere England-Stürmer Gary Lineker: "Nun wird er irgendwo jemandem anders in die Beine beißen."

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SZ vom 20.04.2020
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