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Nationalmannschaft:Die DFB-Elf hat verlernt, Tore zu schießen

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Zehn Treffer in zuletzt elf Länderspielen - das ist die Quote eines Fußball-Zwergstaates. Hier liegt das eigentliche Problem der deutschen Elf.

Kommentar von Philipp Selldorf

Während der vergangenen Monate sind viele geistreiche Untersuchungen darüber angestrengt worden, warum die deutsche Mannschaft bei der Weltmeisterschaft schon nach der Vorrunde heimreisen musste. Von den trostlosen T-Shirt-Uniformen des Trainerteams bis zur Wasserpfeife des Verteidigers Antonio Rüdiger hat man kein Indiz unbeachtet gelassen, um dem Versagen auf die Spur zu kommen, doch friedenstiftende Prozess-Beweise ergaben sich kaum.

Die echte, die wahre Wahrheit ist erst jetzt ans Licht gelangt, durch das viel zu knapp gewonnene Testspiel gegen Peru, in dem sich ein wesentliches, womöglich das zentrale Syndrom der Deutschen offenbarte: Die Nationalelf musste das Turnier verlassen, weil sie verlernt hat, Tore zu schießen.

Über Chancenverwertung sprach Löw in seinem Selbstverriss kaum

An Torchancen und Torschüssen hat es den Deutschen während der Spiele in Russland nicht gemangelt, sie waren fast so zahlreich wie die grimmigen Wachtposten im Park des verpönten Teamquartiers in Watutinki. Selbst im elenden Ringen mit Südkorea taten sich genügend Gelegenheiten zu ein paar Siegtreffern auf, und Mario Gomez - Beruf: Torjäger - hat Glück gehabt, dass in Anbetracht des gewaltigen Scheiterns niemand mehr diese Szene thematisiert hat, in der er ungeschickt an Joshua Kimmichs Zuspiel vorbeitrat und damit seine professionelle Bestimmung eklatant verfehlte. Diesen kurzen, aber schicksalhaften Moment brachte nun im Testspiel gegen Peru Marco Reus in Erinnerung, als er auf ähnlich unselige Weise eine maßgenaue Ablage von Ilkay Gündogan verstolperte.

Jener Marco Reus ist unzweifelhaft ein begnadeter Fußballer, und seine Treffer-Quote kann sich sehen lassen: 100 Tore in 235 Bundesligaspielen, zehn Tore in 35 Länderspielen. Dennoch ist Reus kein Torjäger, lediglich ein torgefährlicher Angreifer. Was man nun wieder gesehen hat, da ihn der Bundestrainer als Mittelstürmer ein Stück zweckentfremdete.

Ein Trainer, der Niederlagen mit ausgelassenen Chancen erklärt, klingt wie der Arzt, der Herzversagen als Todesursache angibt: Er hört sich banal an. Trotzdem spricht er womöglich bloß die Wahrheit aus, auf die es ankommt, denn Tore entscheiden nicht nur Spiele, sondern auch über den Fortgang des sportlichen Erfolgs. Als er seine Analyse für das Scheitern bei der WM präsentierte, hat der Bundestrainer einen vorbildlich aufrichtigen Selbstverriss und treffliche technische Argumente vorgetragen, doch das Kernproblem der stumpfen Angriffskräfte ließ er weitgehend unerwähnt, womöglich kam auch ihm diese Tatsache zu simpel vor.

An diesem schrecklich einfachen Grund für den Misserfolg führt aber kein Weg vorbei: In den elf Länderspielen seit Ende der WM-Qualifikation gelangen der DFB-Elf zehn Treffer - nicht pro Partie, sondern insgesamt. Die Quote eines Zwergstaates. Noch Fragen?

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Quelle:
SZ vom 11.09.2018
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