Süddeutsche Zeitung

Letzter Test vor der Fußball-WM:DFB-Team reist mit Misstönen nach Russland

Lesezeit: 4 min

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Schon vor dem Anpfiff herrschte in der Leverkusener BayArena eine Stimmung wie im Zirkuszelt. Die Zuschauer waren gekommen, um Aaaaaah und Oooooh auszurufen und sich an den Kunststückchen zu erfreuen, die Deutschlands Fußballer im Laufe ihres Trainingscamps einstudiert hatten. Aber am Ende hatte Ärger den Frohsinn im Zirkuszelt verdrängt, zügig spielte nach dem Schlusspfiff die Stadionregie laute Musik ein. Die deutsche Elf sollte wenigstens keine Misstöne im Ohr haben vor der Abreise zur WM nach Russland. Von einer glänzenden Generalprobe konnte ohnehin keine Rede sein, der 2:1 (2:0)-Sieg gegen den erwiesenen Außenseiter Saudi Arabien war der angemessen dünne Ertrag eines weitgehend überlegen, aber selten souverän geführten Spiels. Am Ende mussten die Weltmeister sogar froh sein, dass ihnen der Sieg nicht noch abhanden gekommen war.

Nach den Erfahrungen des Ausflugs nach Österreich, bei dem deutsche Fans die altgedienten Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan wegen ihres Treffens mit dem türkischen Staatschef Recep Erdogan mit Pfiffen verfolgt hatten, hatte DFB-Manager Oliver Bierhoff für die Begegnung in Leverkusen Zusammenhalt und ein Ende der Unmutsäußerungen gefordert. Doch die Besucher der BayArena hatten zunächst keine Chance, guten Willen zu zeigen. Özil fehlte wegen einer leichten Verletzung, und Gündogan saß auf der Ersatzbank. Als ihn der Bundestrainer nach 57 Minuten für den stark spielenden Marco Reus einwechselte, gab es mehr als bloß vereinzelte Pfiffe. Es wurde laut und schrill im Stadion - es hörte gar nicht mehr auf, laut und schrill zu sein, und auch die Beruhigungsversuche von Jogi Löw brachten keine Wende. Die Applaus-Frequenz stieg, doch die Pfiffe machten den größeren Krach.

"Dass ein Nationalspieler so ausgepfiffen wird, hilft niemandem", sagte Löw nach der Partie pikiert. Gündogan habe sich erklärt und der Kritik gestellt, damit sei das Thema "irgendwann mal vorbei".

Mancher Saudi mag sich an Sapporo 2002 erinnert haben

Ohne Gündogan hatte Löw eine Elf aufgeboten, die sich auch als Start-Ensemble für die erste Turnierpartie gegen Mexiko eignen würde. An Özils Stelle rückte Marco Reus, der sich vorwiegend als zweite Angriffsspitze neben Timo Werner nützlich machte. Jérôme Boateng feierte pünktlich vor der Abreise seine Rückkehr im deutschen Deckungszentrum. Mehr als sechs Wochen hatte er wegen einer Adduktorenverletzung gefehlt.

Die erste Viertelstunde entwickelte sich zügig zum Albtraum für die Gäste. Mancher Saudi mag sich an Sapporo 2002 erinnert haben, als Rudi Völlers Mannschaft bei der WM in Japan über das Team aus dem stolzen Königreich herfiel wie die Hunnen-Horde (wobei vor dem Mittelstürmer Carsten Jancker sogar die Hunnen Angst gehabt hätten). Hätten die Deutschen am Freitag den Takt beibehalten, den sie zu Beginn des Abends anschlugen, dann wäre ein 8:0 wie damals keine Illusion gewesen. Werner legte auf Zuspiel von Reus nach acht Minuten das 1:0 vor, Mats Hummels hatte mit einem schicken steilen Franz-Beckenbauer-Pass den Angriff eröffnet.

Alles, was die Deutschen in diesen Minuten machten, sah gekonnt und selbstverständlich aus. Hummels genoss die Leichtigkeit des Seins so sehr, dass er seine geliebten Außenristpässe schnibbelte. Sami Khedira kostete seine Macht als Spielgestalter aus der Tiefe aus, Werner rannte mit Lust in die Tiefe, und Julian Draxler fabrizierte diverse Übersteiger. Nach zehn Minuten fehlten zum 2:0 nur Zentimeter, Reus traf den Pfosten. Schließlich schafften es die Saudis, den Gefahrenschwerpunkt einigermaßen zu sichern, das Publikum fühlte sich aber immer noch gut unterhalten. Umjubelter Höhepunkt: Als Manuel Neuer im Angesicht eines saudischen Angreifers den Ball dreimal jonglierte, um ihn dann mit links auf eine sehr weite Reise in die andere Spielfeldhälfte zu schicken. "Wir haben gut angefangen, die erste Halbzeit war ordentlich", würde Löw später zurecht geltend machen.

Nach einer halben Stunde legten die Gäste allerdings ihre Ehrfurcht ab, es mehrten sich Szenen am deutschen Strafraum, die Boateng als unerhört empfand. Gestikulierend ermahnte er die Mitspieler zur Mitarbeit in der Defensive, dabei war er selbst nicht unbeteiligt am saudischen Angriffswirbel. Mancher flinke Gegner entwischte Boateng, der in einigen Zweikämpfen aussah, als habe er sich nach einem langen Fernsehabend gerade vom Sofa erhoben. Nachdem Khedira erneut den Pfosten getroffen hatte, sorgte Thomas Müller in originalgetreuer Müller-Manier für das 2:0 - er drängelte dem gegnerischen Othman ein Eigentor auf (43.).

"Wir werden gut vorbereitet sein, wir sind eine Turniermannschaft", sagt Reus

Die zweite Halbzeit startete ähnlich verheißungsvoll wie die erste. Wieder ergriff die deutsche Elf engagiert und inspiriert die Initiative, doch die zwingenden Szenen im Strafraum der Saudis wollten sich kaum noch ergeben. Zu umständlich ging es auf den finalen Stationen zu, und wenn sich eine Lücke fand, wie für Draxler (51.) und Müller (54.), dann war Abdullah Al-Muaiouf zur Stelle - Oliver Kahns arabisches Torwart-Nachhilfeprojekt scheint Früchte zu tragen. "In der zweiten Hälfte haben wir so gut wie alles vermissen lassen", sagte Khedira und fasste die Mängelliste damit am besten zusammen.

Auch mit Gündogans Einwechslung wurde die Sache nicht besser. Der 27-Jährige wurde sogar dann noch ausgepfiffen, als er vor Al-Muaiouf stand und eine erstklassige Torchance hatte. Viele gönnten ihm offenbar kein Tor - und waren dafür auch bereit, aufs Jubeln zu verzichten. Die Missstimmung in der Arena tat dem Geist des deutschen Spiels nicht gut, und die vielen Einwechslungen, sechs an der Zahl, wirkten sich nicht erfrischend, sondern störend aus. Julian Brandt vergab noch die Chance zum 3:0, und dann folgte eine Schlussphase, die beinahe in einen Chor von Buhrufen gemündet wäre. Bloß um eine Handbreit verpassten die Gäste, zwischenzeitlich durch einen im Nachschuss verwandelten Foulelfmeter herangekommen, den Ausgleich.

"Wir sind eine Turniermannschaft", sagte der (übrigens unversehrte) Marco Reus noch, man werde in einer Woche bereit sein. Und, als wolle er die grummelnde Nation beschwichtigen: "Da braucht sich Deutschland keine Sorgen zu machen."

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Quelle:
SZ vom 09.06.2018
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