Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Neun Umzüge in eineinhalb Jahren

Lesezeit: 3 Min.

Julia Stepanowa bekommt den Anti-Doping-Preis für ihre Dienste als Whistleblowerin. Ihr Leben ist nach der Wahl von Donald Trump komplizierter - doch sie hat auch neue Hoffnung.

Von Johannes Knuth, Berlin

Als dann der Preis verliehen wird, bleibt die Bühne leer. Die Prämierten sitzen am anderen Ende der Welt, irgendwo in Amerika. Julija Stepanowa und ihr Mann Witalij sind per Videotelefonie zugeschaltet, Witalij trägt ein blaues Hemd, er ist blass, die tiefe Nacht liegt über ihrer Heimat. Julia hat ihr schulterlanges Haar nach hinten gekämmt, sie lächelt. Hinter ihnen sieht man nur eine Wand, mehr können sie nicht von sich zeigen. Sicher ist sicher.

Aber sie hören gut zu, als die Laudatoren jetzt von Stepanowas Mut erzählen. Wie sie nach ihrer Dopingsperre auspackte, als Verräterin stigmatisiert wurde, aus Russland floh, sich versteckt, bis heute. "Sie haben ihr Leben riskiert, um aus einem Irrtum auszusteigen", sagt Ines Geipel, die Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe (DOH). Dann hält Geipel eine Urkunde in die Kamera, dazu einen Blumenstrauß. Tja, sagt Geipel, "ich weiß nicht, ob wir die Blumen noch frisch zu euch kriegen".

Die DOH hat am Dienstag in Berlin ihren Anti-Doping-Preis an die 800-Meter-Läuferin Julija Stepanowa verliehen, erstmals dotiert mit 10 000 Euro. Stepanowa hatte vor zwei Jahren mit ihrem Mann das Systemdoping in Russland entblättert; Russlands Leichtathleten sind bis heute suspendiert. Die Stepanows wollten erst nach Berlin kommen, aber ihr Asylverfahren in Amerika läuft noch, der Ausgang ist ungewiss, und auch wenn sie es am Dienstag so nicht sagten: Seit der Wahl Donald Trumps ist das Land, in das sie flüchteten, ein anderes, und sie können nicht davon ausgehen, dass man sie noch einmal hineinlässt. Also blieb die Bühne am Dienstag halt leer, als Stepanowa erzählte, was mit denen passiert, die das Schäbige im Sport enthüllen.

Stepanowa berichtete von neun Umzügen in eineinhalb Jahren, der letzte, weil Hacker Datenbanken geknackt hatten, um die Stepanows aufzuspüren. "Wir versuchen, nicht zu sehr daran zu denken, dass wir verfolgt werden", sagte Julija. Sie erzählte von ihrem Blut, das vergiftet sei, weil sie mit Epo und Steroiden gefüttert worden war; das machen alle so, sagten ihr die Trainer. Unter der Haut habe sich auch ein Eisenstein gebildet, wegen der Injektionen. Sie benötige eine OP, aber die ist teuer. Immerhin, "je mehr Wahrheiten ans Tageslicht kommen", sagte Stepanowa, "desto mehr Unterstützung bekommen wir, auch finanziell. Und je mehr Zeit verstreicht, desto mehr spüre ich, dass es die richtige Entscheidung war". Der Sport habe Stepanowa zu danken, sagte Hans-Wilhelm Gäb, einst Chef der deutschen Sporthilfe, der am Dienstag die Laudatio hielt.

Und der Sport, der gerne Fair Play und null Toleranz gegen Doping predigt? Als Stepanowa sich im Sommer um ein Olympiastartrecht bewarb, sprach ihr das Internationale Olympische Komitee mit seinem deutschen Chef Thomas Bach die ethische Eignung ab. Obwohl sie ihre Sperre abgesessen hatte. Russlands Sportler liefen in Rio zu Hunderten ein, auch ehemalige Doper, trotz erdrückender Indizien des Betrugs. Gäb gab deshalb seinen olympischen Orden zurück; Bach habe sich einer bloßgestellten Sportmacht unterworfen, sagte er. "Die Nulltoleranz-Rufer vom IOC", bekräftigte Gäb am Dienstag, "haben ihre moralische Verantwortung verwirkt."

Die Stepanows hatten das damals ähnlich artikuliert. Mittlerweile geben sie sich defensiv. Bach hatte ihnen im Oktober Unterstützung angeboten, ein Stipendium für Julija, einen Beraterjob für Witalij, sie nahmen beides an. "Wir versuchen, nach vorne zu blicken", sagte Witalij in Berlin. Er berate das IOC derzeit in "großen und kleinen Fragen", zuletzt über die Rolle von Whistleblowern.

Man solle das nicht schlechtreden, so Gäb, aber das IOC könne sich die Hilfe ja leisten, nachdem Russland in Rio besänftigt worden war. "Das Verbrechen ist schon geschehen", sagte Gäb. Deutlicher wurden die Stepanows am Dienstag, als sie nach dem Mentalitätswandel im russischen Sport gefragt wurden. Alle Aussagen aus Russland, die Reformen versprächen, würden von den "Urvätern des staatlichen Dopingsystems stammen. Das sind Lügen", sagte Witalij. Julija assistierte: "Die Trainer, die damals gedopt haben, trainieren weiter. Sie sind die Personen, die das System am Leben halten."

Das sei der vielleicht größte Verdienst Stepanowas, sagte Geipel: Die Erinnerung, dass der systemische Betrug im Sport nicht versunken sei, sondern im Jetzt wurzele. Geipel verwies auf die Wunde des DDR-Dopings, die jeden Tag wieder aufgehe, 30, 40 Jahre später. Und nach allem, was man von den Stepanows wisse, werde man ähnliches "zunehmend auch im internationalen Raum" bezeugen. Auch Gäb erinnerte an die Erfolgszucht der DDR, die er in der just beschlossenen Reform des deutschen Sports wiedererkenne, bei der Fokussierung auf Medaillen. "Ob das den Zwang zum Dopen reduziert?", fragte er.

Stepanowa hat sich vorgenommen, ihre zweite Karriere ohne Doping voranzutreiben. Sie hat, nach vielen Absagen, einen deutschen Trainer aufgetrieben, er betreut sie per Email, über die Zeitzonen hinweg. Sie will die 800 Meter noch einmal in weniger als zwei Minuten laufen. Ohne Doping sei das unmöglich, hatten sie ihr in Russland gesagt. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Stepanowas Dopinglaufbahn begann als Jugendliche.

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SZ vom 07.12.2016
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