Süddeutsche Zeitung

Länderspiel gegen Frankreich:Ein Fest für Löws Fehlerkultur

Lesezeit: 3 min

Von Ulrich Hartmann, Köln

Joachim Löw ist ein kluger Mann. Ein Cleverle, würde man in seiner badischen Heimat sagen. Der Bundestrainer hat im Übergang zwischen Europameisterschaft 2016 und Weltmeisterschaft 2018 eine neue "Fehlerkultur" ausgerufen, den Mut zum Makel, um hinzuzulernen für die seriöse Prüfung nächsten Sommer in Russland. Für ein Testspiel wie am Dienstagabend gegen Frankreich eröffnete das zwei gleichwertig großartige Alternativen: Entweder man gewinnt oder man lernt - eigentlich beides super.

Dass es in einer dritten Alternative am Ende 2:2 (0:1) ausging und die deutsche Mannschaft auch im 15. Länderspiel des Jahres ungeschlagen blieb, war natürlich noch umso besser: viel gelernt und nicht verloren. Den Treffer zum 1:1 steuerte der Leipziger Timo Werner in der 56. Minute bei, jenen zum 2:2 in der letzten Szene des Spiels Lars Stindl.

"Heute haben wir uns in der zweiten Halbzeit frei gespielt", lobte Bundestrainer Joachim Löw, "nachdem in der ersten Hälfte nicht alles so geklappt hat, wie wir uns das vorgestellt haben.

Als die deutsche Mannschaft letztmals ein Spiel verloren hat, stand Bastian Schweinsteiger noch in der Startelf, der Innenverteidiger Benedikt Höwedes war ein respektierter Schalker und der Flügelstürmer Julian Draxler ein unzufriedener Wolfsburger: Der 7. Juli 2016 war ein lauer Sommerabend in Marseille, aber für die deutschen Weltmeister ging an jenem Donnerstag im Halbfinale der Europameisterschaft eine Erfolgs-Ära zu Ende. 0:2 gegen die EM-Gastgeber, kein Tor, kein Titel - und hinterher ist Löw gefragt worden, ob er denn jetzt überhaupt weitermache. Er machte weiter, und seine Mannschaft verlor keines der nächsten 20 Spiele.

Trapp als Neuer-Backup

Es war in diesem Kontext eine schöne Fügung, dass Löws Team das letzte Länderspiel des Jahres 2017 wieder gegen die Franzosen bestritt, diesmal freundschaftlich in Köln, und auch sonst unter ganz anderen Umständen, was man besonders daran erkannte, dass die Mannschaften nicht mehr viel zu tun hatten mit den Startformationen von Marseille. Bei den Franzosen waren in Samuel Umtiti und Blaise Matuidi bloß noch zwei Spieler dabei, im deutschen Team in Mesut Özil, Emre Can, Toni Kroos und Draxler immerhin noch vier. Auch im Vergleich mit der Startelf vom torlosen jüngsten Sonntag in London hat Löw sechs neue Spieler aufgeboten, klar, er wollte ja möglichst vielen die Chance geben, lehrreiche Fehler zu begehen.

Zur mentalen Beflügelung spielten die Deutschen am Dienstag schon einmal in den künftigen WM-Trikots und mit dem WM-Ball, was Löws Prüflingen aber Gewissensbisse bereitet haben könnte, denn wie soll man Fehler machen und sich zugleich für einen der limitierten Plätze im WM-Kader empfehlen? Der Torwart Kevin Trapp hatte immerhin das Vergnügen, dass er sich als Manuel-Neuer-Backup andienen konnte, während bei den Franzosen jener Alphonse Ariola nur auf der Bank saß, der im Klub bei Paris St. Germain den Vortritt vor ihm bekommt.

Trapp verweigerte sich zunächst der Löwschen Fehlerkultur, als er in der 32. Minute einen Schuss von Kylian Mbappé famos parierte. Doch bloß eine Minute später war er machtlos, als Anthony Martial durch die deutsche Hintermannschaft tanzte und Lacazette das 1:0 so auflegte, dass dieser nur noch das leere Tor vor sich hatte. Mbappé, Lacazette und Martial, das waren die drei französischen Angreifer, die die deutsche Abwehrreihe, wie man sagt, auf Herz und Nieren prüfte. Die Organe der Gastgeber gerieten dabei immer wieder in Unordnung, es war ein Fest für die Fehlerkultur. Vorne übrigens auch. Timo Werner wurde mehrfach prächtig angespielt, vergab aber überhastet. In entsprechender statistischer Rücklage begab man sich zur Pause in die Kabine.

Dieter Müller, 63, der vor 40 Jahren im selben Stadion mit sechs Treffern binnen eines Bundesligaspiels für den 1. FC Köln einen Rekord aufgestellt hat, äußerte sich in der Pause über die Stadionlautsprecher lobend über beide Mannschaften und prognostizierte ein Unentschieden. Mit dem Vertrauen eines solch verdienten Mannes wagten die Deutschen nach der Pause mehr Offensive, und es dauerte bloß bis zur 56. Minute, ehe Mesut Özil eine Kontersituation gegen aufgerückte französische Abwehrspieler dergestalt nutzte, dass er Werner zum Alleingang aufs Tor schickte und diesen zum 1:1 ausgleichen sah.

Toni Kroos hätte in der 69. Minute per Freistoß eigentlich das zweite deutsche und vielleicht damit das Sieg-Tor schießen sollen, er traf aber nur die Latte. Das führte dazu, dass Lacazettes zweiter Treffer zwei Minuten später die Franzosen wieder in Führung brachte. Deutsches Phlegma in der Rückwärtsbewegung war Gift gegen fidele französische Stürmer. Stindl aber rettete die deutsche Mannschaft. Erstmals seit 20 Jahren beendet sie ein Jahr wieder ohne jegliche Niederlage.

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Quelle:
SZ vom 15.11.2017
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