Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Blitz statt Post

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Das Schachspiel boomt gerade, weil es sich so leicht ins Internet übertragen lässt. Für die Puristen ist das freilich ein harter Schlag. Denn die Partien mit klassischer Bedenkzeit sind kaum gefragt. Die Duelle, in denen es schnell gehen muss, bieten mehr Show.

Von Johannes Aumüller

Das Internet war noch lange nicht erfunden, da war es unter Schachspielern durchaus populär, eine Partie gegen jemanden zu bestreiten, der nicht am Brett gegenüber saß - sondern viele, viele Kilometer entfernt war. Fernschach nannte sich das, die Kontrahenten übermittelten sich ihre Züge via Postkarte, und die Bedenkzeit pro Zug betrug bis zu 50 Tage. Maßgeblich fürs Frist-Ende war das Datum des Poststempels. Die der Überlieferung nach längste Partie, ausgetragen zwischen New York und Pforzheim Mitte des 19. Jahrhunderts, dauerte 16 Jahre. Fernschach, das war, jenseits abenteuerlicher Rahmenbedingungen, auch stets das Synonym dafür, sehr lange über den bestmöglichen Zug grübeln zu können.

Derzeit steigt die Zahl der Partien, in denen sich die Gegner viele, viele Kilometer voneinander entfernt befinden, ins Unendliche. Schach boomt, weil es sich so leicht ins Netz übertragen lässt. Die Popularität im Digitalen ist schon lange groß, aber durch die Corona-Krise steigert sie sich noch einmal. Die beliebtesten Schachserver verzeichnen Rekordzugriffe und sind teils überlastet; auch die Weltklasse-Spieler tragen dort Wettbewerbe aus - an diesem Wochenende etwa endete das Privatturnier von Weltmeister Magnus Carlsen, das er praktischerweise gleich selbst gewann.

Nur: Sie spielen dort ein besonderes Schach, die Millionen Amateure wie die Handvoll Profis. Partien mit klassischer Bedenkzeit (bis zu drei Stunden pro Akteur) sind im Netz kaum gefragt. Stattdessen Schnell- oder Blitzschach, also Partien mit extrem verkürzter Bedenkdauer. Da hat ein Spieler nur 20, zehn oder fünf Minuten pro Partie. Der Schach-Boom ist im Grunde ein Schnellschach-Boom.

Das ist durchaus eine Pointe. Denn für manche Puristen haben solche kurzen Bedenkzeiten mit Schach nichts mehr zu tun, sondern eher mit einer Mischung aus Würfelspiel und Taschenspielertricks. Auch die Verbände vernachlässigten diese Formate lange. Natürlich sind die formalen Bedingungen dieselben, das Brett, die möglichen Züge der Figuren, die Definition von Matt. Aber zum Wesenskern des Sports gehört für manche halt langes und tiefes Nachdenken - und nun erzeugen just fehlerreiche Schnellzieh-Varianten die große Aufmerksamkeit. Die lassen sich bequemer spielen und auch bequemer verfolgen.

Schach orientiert sich an dem, was mehr Show und mehr Öffentlichkeit bringt, so wie andere Sportarten das auch taten. Der Langlauf setzte irgendwann auf Massenstarts und Verfolgungsrennen, Tischtennis auf eine andere Zählweise. Aber im Spitzenschach ist die neue Fokussierung auch inhaltlich gerechtfertigt - solange es nicht in die Extremvariante Bullet ausartet, in der alle Züge sogar binnen 60 Sekunden zu erledigen sind.

Schnelles Ziehen produziert natürlich mehr Fehler, aber es erfordert auch besondere Gaben wie eine gute Intuition oder rasches Kalkulieren. Zugleich ist es faszinierend zu sehen, welch starke Züge die Profis auch in Zeitnot ausführen. Und anders als etwa im Langlauf mit seinen Experten für Sprint oder 50 Kilometer, gibt es beim Schach nur vereinzelt Spieler, die zwar phänomenal blitzen können, aber bei klassischer Bedenkzeit extrem abfallen (oder andersherum). Magnus Carlsen sicherte sich schon in allen drei Kategorien den WM-Titel.

Nur eine Disziplin fällt da aus der Reihe: das Fernschach mit seiner wochenlangen Bedenkzeit. Das gibt es tatsächlich ebenfalls noch, sogar Weltmeister werden darin gekürt. Auch wenn es dabei schon seit Längerem erlaubt ist, dass die Züge nicht via Postkarte, sondern digital übermittelt werden.

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SZ vom 05.05.2020
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