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Kilde-Sieg auf der Streif:Wo rohe Kräfte sinnvoll walten

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Kitzbühel bei Schnee und Wind, das erfordert einen Mann fürs Komplizierte: Der Norweger Aleksander Aamodt Kilde beweist bei seinem Premieren-Erfolg auf der Streif, dass er "ein richtiger Wikinger" ist.

Von Johannes Knuth, Kitzbühel

Wohl dem, der solche Schwachstellen hat. Die wilde Streif-Piste in Kitzbühel, hatte der Skirennfahrer Aleksander Aamodt Kilde vor Kurzem noch gesagt, sei "ein bisschen meine Achillesferse". Das erstaunt erst einmal, der Norweger war ja lange ein Mitglied der Alles-oder-Nichts-Ultras; einer, der seine Fahrten selbst dann noch schwer aussehen ließ, wenn das Gelände einfach zu fahren war, wie Kilde einmal scherzte. Auf den zweiten Blick klingt das freilich stimmig: Kitzbühel belohnt ja weniger die Halsbrecherischen, die auf einer schweren Abfahrt etwas Besonderes anstellen, sondern die, die das Einfache besonders gut machen. Und jetzt?

Die Streif hatte diesmal nicht ihre Festtagskluft angelegt, Wolken und Schnee schmiegten sich inniger an den Hahnenkamm, als es vielen lieb war. Wobei: Die Streif bei Kaiserwetter, ob mit 50 000 Zuschauern oder 1000 wie am Freitag, das ist manchmal ja fast zu kitschig, in etwa so bekömmlich wie eine Packung Konfekt auf einmal. Dieses Mal brauchte es erst recht einen Mann fürs Anspruchsvolle, und dass es dabei wieder auf den 29-Jährigen aus Baerum hinauslief, zum dritten Mal in diesem Winter auf der Abfahrt und das erste Mal in Kitzbühel, wobei Kilde allein mehr als eine halbe Sekunde flotter war als der Zweitplatzierte Johan Clarey - das kündete auch von Größerem: von der Fähigkeit zu wachsen und einem speziellen Verständnis für diesen zehrenden Einzelsport, das weit über das Wettkampfglück eines Tages hinausreicht.

Auch die Organisatoren schwitzten bis zum Freitag schwer in ihrem Unbehagen. Seit Tagen hatten Helfer Neuschnee von der Piste geschaufelt, in der Nacht von Freitag ab zwei Uhr morgens, doch am Ende blieb die befürchtete Nachricht aus. Sie mussten die Strecke nur um zwei Kurven kürzen. Die Fahrer sprangen nicht in die Mausefalle, sondern schoben sich hinein, alles andere wäre zu gefährlich geworden bei dem böigen Wind. Aber Kilde, der schon über die volle Distanz die schnellste Zeit im Training erschaffen hatte, gereichte auch dieser graue Vormittag nicht zum Nachteil.

Norwegens Alpinfahrer trainieren häufig bei schlechtem Wetter, sie brauchen gute Füße, wie sie sagen, weil sie bei schlechter Sicht umso besser die Piste spüren müssen. Dass Kilde diese Ausbildung mit Bestnoten abschloss, bewies er am Freitag vor allem im Steilhang: Dort drückte er die ruppigen Wellen weg, als existierten sie für ihn gar nicht, und bei der Ausfahrt, wo die Fliehkräfte die meisten Fahrer fast bis ins Fangnetz treiben, hatte er noch Kraft, seine Skier fast bergauf laufen zu lassen, über die Kuppe, über die er so lässig federte wie bei einem Hüpfer vom Dreimeterbrett. Den Schwung, den er dabei mitnahm, war wie ein Proviant, von dem er bis ins Ziel zehrte.

2020 kam die Wende: Kilde holte den Gesamtweltcup

Nicht, dass das die Buchmacher überraschte: Kilde war schon vor Jahren als Hochbegabung aufgefallen. Er gewann 2016 die Weltcup-Wertung im Super-G, der verlangt, kraftzehrende Kurvenlagen und Hochgeschwindigkeit stimmig abzuschmecken. Doch Kilde würzte seine Fahrten oft noch mit einer Prise zu viel Risiko, bis vor zwei Jahren gewann er nur drei Rennen im Weltcup. Der Winter 2019/20 brachte die Wende, damals überflügelte er sogar den großen Favoriten Alexis Pinturault im Gesamtweltcup. Als Kilde im Winter darauf das Kreuzband riss, sah er auch das als Chance, noch mal "ganz von vorne" anzufangen, wie er zuletzt erzählte: Er habe in seinem lädierten Knie selbst "die kleinsten Strukturen" aufgebaut, könne seinen Körper noch besser spüren. Er pflügt jetzt schon noch mit der Anmut eines Jungbullen über die Pisten, gleichzeitig hält er die Skier so filigran auf Zug, als würde er dabei mit zehn Bällen jonglieren.

Und dann ist da wieder dieser Aspekt, der auch seinen Erfolg in ein noch spezielleres Licht taucht: Auch Kilde stammt aus jener Schule des Austauschs, die seine Vorgänger Lasse Kjus und Aksel Lund Svindal einst im norwegischen Verband etablierten. Svindal hatte zuletzt noch mal erzählt, wie er einst in die Weltcup-Mannschaft kam, und nach dem ersten Abendessen mit den damaligen Leitwölfen Kjus und Kjetil André Aamodt sofort das Gefühl hatte: "Das sind meine besten Freunde." Von dieser Kultur habe er "zumindest zehn Prozent" weitertragen wollen, er sah das als größte Chance, die wenigen Alpin-Talente des Landes dauerhaft für die Weltspitze fit zu machen: "Wenn ich einem jungen Fahrer am Anfang nur zu 99 Prozent vertraue", wie das oft Usus sei, "dann ist das fast so, als würde ich ihm zu null Prozent vertrauen", sagte Svindal. Weil sich der Nachwuchs dann frage, weshalb ihm das restliche ein Prozent vorenthalten werde.

"Ein richtiger Wikinger", sagt der deutsche Abfahrer Andreas Sander

Kilde, sagen seine Trainer heute, führe diese Kultur nahtlos weiter; auch die Gabe, dann voll da zu sein, wenn es bei den großen Rennen zählt. Das ist umso wichtiger, als dass bei Kjetil Jansrud, dem Abfahrts-Weltmeister von 2019, nach einem Kreuzbandriss in Beaver Creek fraglich ist, ob er überhaupt noch mal in den Sport findet. Ansonsten schickten die Norweger am Freitag nur den 26-jährigen Henrik Roea ins Rennen, der das Ziel nicht erreichte.

Andererseits: Wer auf der Streif triumphiert ("Eines der größten Rennen, das ich gewinnen kann", so Kilde), kann sich auch eine Lücke dahinter leisten. Im Gesamtweltcup ist der Schweizer Marco Odermatt, der am Freitag Fünfter wurde, in diesem Winter wohl zu stark, auch weil Kilde nach seiner Verletzung (noch) auf die Riesenslaloms verzichtet. Aber bleibt der Norweger gesund, wird es für die Konkurrenz zäh, bei den nahenden Winterspielen und überhaupt. Kilde, sagte der Deutsche Andreas Sander zuletzt, "fährt so brachial, der kennt überhaupt nichts im Rennen". Am Freitag sah man das vor allem in der neuen Schikane zwischen Hausberg und Traverse, die die Fahrer nach den Stürzen der Vorjahre einbremsen sollte (mit mäßigem Erfolg). Kilde berührte dort mit seinem Gesäß fast den Boden, während er die Skier ins Eis presste, um sich noch um die Kurve zu zwängen. Wo rohe Kräfte sinnvoll walten, oder in Sanders Worten: "Ein richtiger Wikinger."

Sander, vor einem Jahr noch WM-Zweiter in der Abfahrt, krabbelte übrigens auch am Freitag nicht so recht aus seinem Formtief, als 23. Auch Dominik Schwaiger, wieder mal der beste Deutsche, war mit Rang 14 nicht zufrieden. Und Romed Baumann, der wohl schnellste DSV-Fahrer des Tages, hatte das Pech, dass er mit Startnummer zwei den Schneepflug spielte. Am Sonntag wolle man es besser machen, versprachen sie alle, bei der zweiten Abfahrt - wenn es denn so weit kommt, bei den prognostizierten Schneemassen. Klingt wieder schwer nach Wikingerwetter.

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