Süddeutsche Zeitung

Javi Martínez beim FC Bayern:Mister Supercup sagt Adiós

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Javi Martínez hat sich wie kein anderer mit München und dem FC Bayern identifiziert. Jetzt kehrt er wohl nach Hause zurück - doch zum Abschied liefert er eine hollywoodreife Geschichte gegen Sevilla.

Von Jonas Beckenkamp

Es kam der Moment auf dem Podium, als sich alle aufgereiht hatten, um den Pokal abzubusseln. Eine handlich kleine Silberschüssel ist dieser Supercup, frisch desinfiziert stellte er zudem keine Infektionsgefahr dar, sondern funkelte fröhlich in die Nacht hinein. Die Profis des FC Bayern packten dann reihenweise beherzt zu, sie haben ja eine gewisse Routine mit solchem Siegergeschirr - aber einer hielt sich hinten links zurück, als sei er nur Zuschauer beim Feiern.

Der große Javier Martínez Aginaga hätte allen Grund gehabt, sich den Pott zu schnappen und mehr Selfies zu schießen, als die Selfiepolizei erlaubt. Er hätte einen Platz im Vordergrund verdient gehabt. Aber der bayerischste aller Basken (neben Bixente Lizarazu und Xabi Alonso) ließ die anderen vor. Den Pokal hielt er erst später in den Händen - und zwar in der Kurve vor den Fans. Was bleibt von einer Fußballerkarriere beim FC Bayern, wenn einer alles gewonnen hat? Wenn einer in acht Jahren eine solche Liste an Erfolgen angehäuft hat, dass sie hier den Rahmen sprengen würde? Wenn einer gleich zweimal maßgeblich mitgeholfen hat beim Gewinn des Supercups, der auch offiziell der Titel der besten Mannschaft Europas ist?

Es sind Bilder, wie sie Martínez lieferte, dieser Sympathikus aus dem Dorf Ayegui in Navarra. Ein Typ, den in München wirklich ausnahmslos jeder gern hat, weil er sich wie kaum ein anderer mit der Stadt und dem Klub identifiziert. Der 2015 auf eigene Faust an den Münchner Hauptbahnhof gefahren ist, um zu helfen, als zehntausende Geflüchtete dort ankamen. Und der diesmal zum Matchwinner wurde mit seinem Kopfballtreffer zum 2:1 (1:1) nach Verlängerung gegen einen widerspenstigen, taktisch sehr klugen FC Sevilla. 32 Jahre ist selbst der ewig junge Martínez mittlerweile alt, er wird die Bayern in Kürze verlassen, so ist der Lauf der Dinge in der Branche. Es geht wohl heim nach Bilbao - an den Ort, von dem er gekommen war.

Aber was ist schon das Alter, wenn einer noch so wichtige Tore erzielt? "Mit seinem Kopf ist er eine absolute Waffe, dieses Kopfballspiel hat er auch in 30 Jahren noch", bemerkte Thomas Müller über jene Großtat von Martínez fünf Minuten nach seiner Einwechslung in der 99. Minute. Nach einer Ecke hatte David Alaba einen Dropkick aufs Tor fliegen lassen, Sevilla-Keeper Bono ließ abprallen und Martínez schraubte seinen langen Körper noch einmal hoch und traf. Zuvor hatten die Spanier nach Lucas Ocampos' Elfmetertor (13. Minute) sogar geführt, sie hatten vorgemacht, wie man gegen den FC Bayern ein 0:8 verhindert und sogar selbst zu Siegchancen kommt: mit Mut und einem Plan.

Sie hatten trotz Leon Goretzkas 1:1 nach einem feinen Abtropfer von Robert Lewandowski im Sechzehner (34.) die Münchner ins Pressing gelockt, um dann zu kontern. Sevilla, das nur am Rande, ist eine Klassemannschaft, der Europa-League-Sieger ist etwa zehnmal so gut wie Schalke 04. Aber die Bayern sind noch besser, sie befreiten sich mithilfe lustvoller Zweikämpfe, wie sie etwa Lucas Hernandez in seinem bisher besten Auftritt als Münchner vorführte. Und sie dominierten dank ihrer offensiven Überzeugung, obwohl sie immer wieder Riesenchancen zuließen, die Manuel Neuer mit seiner Unüberwindbarkeit zunichte machte.

Mit dem Supercup in der Klubvitrine geht es nun zur Klub-WM, dort geht es um den Titel der besten Mannschaft der Welt. Man habe "den Titel verdient gewonnen. Wir dürfen stolz sein, dass wir nun das sogenannte Quadruple nach München geholt haben", fand Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge. Und nicht nur er dürfte sich ans Jahr 2013 erinnert haben, als alles irgendwie ähnlich verlaufen war. Als der 40-Millionen-Mann (Rekord damals!) Javi Martínez im Supercup gegen Chelsea in der letzten Minute der Verlängerung das 2:2 erstocherte. Als Pep Guardiola nach einem heilsamen Elferschießen (Chelsea! 2012!) seinen ersten Titel als Münchner holte.

Guardiola forderte später ja "Thiago oder nix" - der Thiago von Jupp Heynckes (selbst fast ein halber Baske) war ein Jahr zuvor Martínez gewesen. "Es war wie 2013, da habe ich auch ein Tor gemacht. Daher war das heute eine tolle Sache", blickte der einstige Welt- und Europameister zurück. Eine "absolut schöne Geschichte" sei das für Martínez, fand auch Trainer Hansi Flick, der es wissen muss, schließlich hat er mit einem der dienstältesten Münchner auch andere Momente erlebt.

Auch diese Bilder bleiben ja: Ein weinender Martínez auf der Bayern-Bank im Oktober 2019 beim 1:2 gegen Hoffenheim, als der damalige Trainer Niko Kovac ihn trotz Personalnot 90 Minuten draußen ließ. Flick, der Co-Trainer, nahm Martinez in den Arm und tröstete ihn. In diesem Moment war ihm klar, dass seine Zeit in München langsam zu Ende geht. Der ewige Martínez war nicht mehr ganz so kraftvoll, seine Schritte waren langsamer geworden, seine Fehlerquote höher.

Oder die Bilder vom letzten großen Auftritt von ihm als Münchner: Februar 2019, 0:0 in Liverpool. Martínez, der sich in jede tosende Welle von Anfield schmiss, der jedes Kopfballduell für sich entschied und sich aufopferte. Oder die Bilder im Internet: Listen seiner Leiden. In der Schatzkiste für Fußballdaten transfermarkt.de, wo alles steht (sogar die 23-prozentige Wahrscheinlichkeit eines Martínez-Transfers zu Al-Nasr Riad), ist er einer der wenigen, dessen Verletzungshistorie zwei ganze Seiten umfasst.

"Immer wenn ich im Bayern-Trikot spiele, versuche ich, alles zu geben, mit 100 Prozent zu spielen. Das habe ich auch heute gezeigt", sagte er jetzt im Fernsehen: "Ich will der Mannschaft immer helfen, heute mit einem Tor." Man muss ihm das unbedingt glauben, Martínez ist kein Schwätzer, vielmehr war er diesmal "die Kirsche auf der Sahne, unser Mister Supercup", wie Thomas Müller es umschrieb. Sollte der Defensivspezialist gehen, verliere die Mannschaft "einen super Kollegen und verrückten Vogel".

"Ich glaube, er hat dem Verein sehr viel gegeben", sagte Thomas Müller

Müller erzählte auch, wie schwer es für seinen Mitspieler war, dass er zuletzt kaum noch aufs Feld durfte. "Dass er nicht mehr alle drei Tage ans Limit gehen kann, hat ihm auch ein bisschen wehgetan. Ich glaube, er hat dem Verein sehr viel gegeben." Die Nacht in Budapest bildete den kitschigen Rahmen für seine Abschiedsrunde. Nach insgesamt 239 Spielen für den FC Bayern könnte Sonntag sein allerletztes folgen. Es geht - natürlich - wieder gegen Hoffenheim, auch das noch: Es wird wieder Tränen geben vermutlich, aber diesmal nicht nur aus Enttäuschung. "Heute will ich nur ein bisschen feiern mit den Kollegen, aber wir haben am Sonntag ein Spiel. Wenn ich dabei bin, werde ich mich reinhauen", erklärte Martínez.

Das sogenannte Transferfenster ist noch bis zum 5. Oktober geöffnet, mit Bilbao ist eigentlich alles klar, es werden ein paar Millionen weniger als damals, als er kam, die Rede ist von einer Ablöse unter zehn Millionen. Schon vor zwei Wochen erzählte Martinez auf dem Trainingsplatz seinem damaligen Kollegen Thiago, dass sie ihm bei Athletic die Trikotnummer zwei reserviert haben. Beschlossene Sache also. Und so endet auch eine Ära bei den Bayern: Mit Martinez, dem muchacho aus der Mitte, verabschiedet sich der letzte Spanier aus jener Zeit, als es phasenweise sogar mehr Spanier als Bajuwaren gab im Team. Bernat, Pepe Reina, Alonso, Thiago, Odriozola, Martínez - es ist ein ¡ Adiós! angebracht. Umarmen geht ja gerade nicht.

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