Süddeutsche Zeitung

Handball:Vertreter des neuen Jahrtausends

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Juri Knorr, 20, hat eben erst sein erstes Länderspiel absolviert, gilt aber schon als kommender Regisseur der Nationalauswahl.

Von Ulrich Hartmann, Düsseldorf

Mit Vorbildern wie Günter Netzer, Lothar Matthäus oder Michael Ballack hätte man Juri Knorr damals nicht kommen müssen, als er 2015 in der C-Jugend des VfB Lübeck sehr ambitioniert Fußball gespielt hat. Große Spielmacher kann der deutsche Fußball immer gebrauchen, doch Knorr, der parallel beim MTV Lübeck leistungsorientiert Handball spielte, hat sich vor fünf Jahren gegen den Fußball und für den Handball entschieden. Heute kann man dem 20-Jährigen mit Vorbildern wie Daniel Stephan und Markus Baur durchaus kommen: Knorr gilt als der nächste Spielmacher des deutschen Handballs. "Juri könnte mal wieder ein klassischer deutscher Mittelmann sein", sagte Bundestrainer Alfred Gislason am Donnerstag, bevor Deutschland das EM-Qualifikationsspiel gegen Bosnien-Herzegowina 25:21 gewann. Es war ein trister Auftritt der deutschen Auswahl vor leeren Tribünen. Für Knorr aber war es etwas Besonderes: Er bestritt sein erstes A-Länderspiel und schrieb Geschichte als erster Nationalspieler, der im neuen Jahrtausend geboren wurde.

Noch mal kurz zurück ins Jahr 2015: Beim VfB Lübeck spielte Knorr damals Fußball in der Regionalliga, der höchsten Liga seiner Altersklasse, zusammen mit Ryan Adigo, der heute für die U23 von Borussia Mönchengladbach in der vierten Liga aktiv ist und hofft, es mal in die Bundesliga zu schaffen. Vielleicht hätte Knorr es auch beim Fußball zum Profi geschafft, aber er hat sich für den Handball entschieden, weil sein Vater der frühere Bundesligaprofi Thomas Knorr ist und weil ihm die Spielidee beim Handball näher war. "Mir ist es lieber, alle 30 Sekunden mal am Ball zu sein als ohne Ball immer rauf und runter zu rennen", hat er mal gesagt. Vor seinem Länderspieldebüt am Donnerstag hat er noch einen interessanten Punkt angeführt: "Beim Handball hatte ich ein besseres Gefühl. Beim Fußball war es schon früh vom Druck und auch von negativen Dingen geprägt. Das wollte ich nicht."

Auch die Kontakte seines gut vernetzten Vaters haben ihm auf seinem Weg in die Handball-Spitze geholfen. Vor zweieinhalb Jahren stieg der Rückraumspieler Juri Knorr mit dem Grömitzer Oberligisten HSG Ostsee unter dem Trainer Thomas Knorr in die 3. Liga auf, und als er in jenem Sommer 2018 in die Nachwuchsakademie La Masia des FC Barcelona wechselte, spielte dabei eine nicht ganz unwichtige Rolle der Barca-Manager David Barrufet, der sich früher als spanischer Weltklassetorwart mit dem deutschen Torjäger Thomas Knorr heiße Duelle geliefert hatte. "Mein Vater war immer an meiner Seite", sagt Juri Knorr über seinen einflussreichen Mentor, "er hat mich sehr geprägt."

In seiner zweiten Saison beim ostwestfälischen Bundesligisten GWD Minden genauso wie fortan in Länderspielen muss Juri Knorr es auf dem Spielfeld natürlich allein schaffen. Gislason hat ihm am Donnerstag im zentralen Rückraum einige Minuten Einsatz gegeben. Als Knorr Mitte der ersten Halbzeit sein erstes Tor für Deutschland erzielte (zum 5:8), war gut zu erkennen, welche Eigenschaften ihn für den deutschen Handball so wichtig machen. Nachdem er im Rückraum mehrmals links und rechts den Ball verteilt hatte, erspähte er in der bosnischen Deckung eine Lücke und setzte sich kraftvoll durch. Ein kreativer Spielmacher, der auch torgefährlich ist und den der Bundestrainer explizit für seine Fortschritte in der Abwehrarbeit lobt, ist ein ungeschliffener Diamant. Kein Wunder, dass der THW Kiel seine Fühler nach Knorr bereits ausstreckt. Bei der 26:41-Niederlage im direkten Duell am vorigen Sonntag war Knorr mit fünf Treffern der erfolgreichste Mindener. Auch sein Vater Thomas, 49, hat in Kiel gespielt, von 1992 bis 1998.

Obwohl Knorr als Mittelmann der Zukunft gilt, muss er sich in der Nationalmannschaft erst einmal hinten anstellen: Der Leipziger Philipp Weber, 28, der derzeit wegen einer Corona-Quarantäne fehlt, gilt für die Weltmeisterschaft im Januar in Ägypten als erste Wahl. Dahinter hat der Neu-Berliner Marian Michalczik, 23, gute Aussichten; auch dessen Klubkollege Paul Drux, 25, und der Lemgoer Tim Suton, 24, gehören zum Kandidatenkreis. Am Sonntag im zweiten EM-Qualifikationsspiel in Estland (15.15 Uhr, ZDF) sind Michalczik, Knorr und Drux für den zentralen Rückraum vorgesehen.

Knorrs Zeit wird kommen, früher oder später. Es wird seine Entscheidung für den Handball kaum bereuen. Das hat er nicht einmal beim FC Barcelona getan, wo ihm lebende Fußball-Legenden erschienen sind und er die Unterschiede zwischen Fußball und Handball besonders drastisch vor Augen geführt bekommen hat. "Wenn die Fußballprofis mit ihren Ferraris vorgefahren sind", erzählte Knorr mal, "habe ich nur noch gestaunt." Diesen Schock hat er mittlerweile ganz gut verdaut.

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SZ vom 08.11.2020
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