Süddeutsche Zeitung

Handball-EM:Hinterm Horizont

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In Osteuropa hat Frauen-Handball einen höheren Stellenwert als hierzulande. Auch deshalb ist der EM-Auftakt gegen die Rumäninnen eine Standortbestimmung für das deutsche Team.

Von Ulrich Hartmann, Kolding/München

Die Europameisterschaft in Dänemark hatte noch gar nicht begonnen, da gab es bereits die ersten Corona-Fälle - und zwar ausgerechnet beim deutschen Auftaktgegner. Mittlerweile sollen die Tests in der rumänischen Mannschaft aber alle negativ sein. Das erste Spiel der deutschen Handballerinnen kann also stattfinden an diesem Donnerstag. "Das Bubble-System ist jetzt natürlich ein bisschen kaputt", befürchtet die Nationalspielerin Amelie Berger, "dabei dachte ich, sie hätten ein super Hygienekonzept."

Für den Bundestrainer Henk Groener bedeutet dieses Konzept, dass er bis jetzt nicht nach Kolding anreisen durfte. Er war symptomfrei corona-positiv, hat mittlerweile auch einen zulässigen CT-Wert, wird aber erst nach weiteren Tests in den nächsten Tagen aus seiner niederländischen Heimat zur Mannschaft stoßen dürfen. Die deutschen Auswahlspielerinnen versuchen derweil, unter dem Co-Trainer Alexander Koke intensiv zu trainieren und sich nebenher ein bisschen zu entspannen. Den Meetingraum im Hotel haben sie weihnachtlich geschmückt.

Für die deutsche Rückraumspielerin Shenia Minevskaja ist die Auftaktpartie (18 Uhr, sportdeutschland.tv) etwas Besonderes. Die 28-Jährige spielt seit dem Sommer in der Walachei. In der deutschen Sprache mag diese rumänische Region als Synonym für gottverlassene Gegenden herhalten, aber für Handballerinnen ist sie so etwas wie der siebte Himmel. In dem Städtchen Ramnicu Valcea werden sie nämlich als Vollprofis bezahlt - anders als in deutschen Klubs, in denen oft nur duale Karrieren finanziert werden können. "Man kann sich dort komplett auf Handball konzentrieren", sagt Shenia Minevskaja. "Man entwickelt sich sportlich weiter, aber auch persönlich, weil man seine heimatliche Komfortzone aufgegeben hat."

Vollprofitum in internationalen Handball-Hochburgen ist etwas, das sich der Bundestrainer für viel mehr seiner Nationalspielerinnen wünschen würde. Denn vom dortigen Niveau profitiert auch das deutsche Nationalteam. Höhere Qualität, mehr Training und keine Ablenkung durch Nebenjobs sind fast nur bei ausländischen Topklubs möglich. "Nur als Vollprofi kann man die Handball-Weltspitze erreichen", sagt der Niederländer. Insofern müsste es der deutschen Mannschaft gut tun, dass vier weitere Spielerinnen neuerdings im Ausland beschäftigt sind - in diesem Fall alle in Ungarn: die Torhüterinnen Dinah Eckerle (Siofok) und Ann-Cathrin Giegerich (Debrecen) sowie der Kreisläuferin Julia Behnke und der Rückraumschützin Emily Bölk (beide Budapest).

Für Olympia ist die deutsche Auswahl nicht qualifiziert - es gilt, etwas gutzumachen bei der EM

In vielen osteuropäischen Ländern hat der Frauen-Handball einen höheren Stellenwert als in Deutschland. Als die deutsche Auswahl 2007 (durch ein 36:35 gegen Rumänien) mit WM-Bronze letztmals Edelmetall gewann, spielten neun Frauen bei dänischen Klubs. Doch zu skandinavischen Arbeitgebern zieht es deutsche Handballerinnen nicht mehr. Um die Attraktivität ihrer neuen Mannschaft in Ramnicu Valcea zu beschreiben, nennt Minevskaja "die vielen tollen Fans" und den "schönen, schnellen Handball". In dem malerischen Städtchen lässt es sich außerdem angenehm leben. Klar durften auch dort zuletzt keine Zuschauer in die Halle, aber die Begeisterung für den Frauen-Handball ist so groß, dass sich die Fans bei einem Heimspiel mal vor der Halle versammelt haben und ihre Gesänge auf Lautsprecher in die Halle übertragen wurden.

Qualitätssteigernde Kriterien in Rumänien sind für Minevskaja außer den Vorteilen des Vollprofitums "die Intensität des Handballs und die Ausgeglichenheit in der Liga". Die in Minsk geborene 28-Jährige, die als kleines Mädchen mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen war, hatte die Bundesliga bereits 2019 verlassen, als sie vom TuS Metzingen nach Brest in die Bretagne wechselte. Handball liegt ihr im Blut, beide Eltern haben Erfolge mit den Nationalteams des früheren russischen Ostblocks gefeiert. Der Vater Andrej wurde 1992 Olympiasieger, die Mutter Swetlana zwei Mal Weltmeisterin.

In der deutschen Nationalmannschaft spielt Minevskaja im linken Rückraum, also dort, wo auch Emily Bölk, eine weitere, neuerdings im Ausland tätige Handballerin ihre Position findet, die familiär ähnlich vorbelastet ist. Ihre Mutter Andrea wurde 1993 mit der deutschen Mannschaft Weltmeisterin. Beide, Bölk wie Minevskaja, würden ihren Weltmeister-Müttern gern nacheifern, aber die Aussicht auf einen Titel, und sei es der des Europameisters, ist für das deutsche Team nicht gerade blendend. Seit etlichen Jahren nehmen sich die Spielerinnen immer wieder das Halbfinale vor, aber allzu oft endeten die Turniere enttäuschend. Exemplarisch stand dafür zuletzt die Weltmeisterschaft vor einem Jahr in Japan, als das Team am Ende Achter wurde und sogar die Qualifikation für Olympia verpasste.

Es gilt also ein bisschen etwas gutzumachen in Kolding gegen die drei Vorrundengegner Rumänien, Norwegen (am Samstag, 18.15 Uhr) und Polen (Montag, 18.15 Uhr). "Die Ungewissheit darüber, ob die EM wegen Corona überhaupt stattfinden kann, hat alle ein bisschen gelähmt", sagt Minevskaja, "aber jetzt sind wir umso glücklicher, dass wir spielen dürfen und wollen alle Energie bündeln." Shenia Minevskaja hätte nichts dagegen, im Januar mit einer Medaille in die Walachei zurückzukehren.

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SZ vom 03.12.2020
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