Süddeutsche Zeitung

Handball-EM:Herabgesunken auf Schülerniveau

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Nachdem der enttäuschende Titelverteidiger Deutschland vorzeitig abreist, versprechen die Verantwortlichen, alles zu hinterfragen - "sehr hart und sehr ehrlich".

Von Ralf Tögel, Varazdin

Es ging ganz schnell. Die Spieler schoben ihre Rollkoffer zum Teambus, verstauten ihre riesigen Sporttaschen im Bauch des Fahrzeugs, und dann war für sie die Handball-Europameisterschaft in Kroatien Geschichte. Keine, die sie gerne erzählen werden, denn die Titelverteidiger mussten schon nach der Hauptrunde abreisen, im Halbfinale stehen am Freitagabend andere Mannschaften. Olympiasieger Dänemark spielt gegen Schweden, und Weltmeister Frankreich trifft auf Spanien, das die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) am Mittwochabend mit einer empfindlichen 27:31-Niederlage aus dem Wettbewerb befördert hat. Für die deutsche Mannschaft bleiben weniger ansehnliche Fakten: Platz fünf in der Sechsergruppe und Rang neun im Feld der 16 besten Handball-Mannschaften des Kontinents, damit ist der Titel vorzeitig weg.

Während die Spieler in Richtung Flughafen unterwegs waren, stellte sich die Spitze des Verbandes im Teamhotel ihrer Verantwortung. Präsident Andreas Michelmann gab "unumwunden zu, dass wir unser Ziel nicht erreicht haben". Das war ja nicht der Flieger in die Heimat gewesen, sondern die riesige Arena von Zagreb, wo die Finalpartien ausgetragen werden. Bundestrainer Christian Prokop musste das enttäuschende Abschneiden des entthronten Europameisters erklären, das in fürchterlichen zehn Minuten im letzten Hauptrundenspiel seinen Tiefpunkt fand. "Wir haben das Spiel verschenkt", lautete die treffende Einschätzung des Coaches.

Zu Beginn des zweiten Durchgangs gegen Spanien spielte seine Mannschaft zutiefst verunsichert, sie hatte keine Idee, wie die ruppige Abwehr des Gegners zu überwinden war. Nach dem Ausgleich zum 15:15 unterliefen den Deutschen ein weiteres Mal in diesem Turnier unerklärliche Patzer, mit dem Rückstand wuchs die Hektik im Angriff. Die Spanier mussten in dieser Phase nicht viel mehr machen, als auf Fehler zu lauern: Die Deutschen verstolperten den Ball, passten ihn ins Aus oder gleich dem Gegner in die Hände.

Prokop reagierte mit einer Auszeit, wechselte sein Personal und ging mit dem siebten Feldspieler anstelle des Torwarts ins Risiko. Er wollte den mittlerweile auf vier Tore angewachsenen Rückstand verkleinern, das Gegenteil war der Fall. Egal, welcher Rückraumspieler sich versuchen durfte, ob Julius Kühn, Steffen Weber oder Steffen Fäth (der immerhin für sich reklamieren konnte, dass er krank in die Partie gegangen war): Es endete in einem Ballverlust. Und jeden leicht gewonnenen Ball brachten die Spanier mühelos im leeren deutschen Tor unter. Acht Gegentreffer nacheinander in zehn Minuten, das ist ein seltener Wert. Paul Drux, der wegen eines Meniskusrisses im rechten Knie bereits daheim war, wurde in dieser Phase schmerzlich vermisst. Eine Erklärung für die Aussetzer, die Torhüter Andreas Wolff später entsetzt als "Schülerniveau" geißelte, ist Drux' Fehlen freilich nicht. Es waren noch genug gestandene Bundesliga-Profis da.

Die Ursachen für diese unschöne Pointe sind bereits vor dem Turnier zu finden. Da hatte Prokop ohne Not für Unruhe in Kader und Umfeld gesorgt, weil er den als emotionalen Führungsspieler anerkannten Abwehrstrategen Finn Lemke aus dem Kader nahm und dafür den Novizen Bastian Roschek von seinem ehemaligen Klub Leipzig nominierte. Die Idee des neuen Trainers, die Abwehr offensiver und flexibler zu gestalten, erwies sich bald als untauglich. Denn nach dem mühelosen Turnierstart gegen Montenegro (32:19) war die deutsche Defensive schon im zweiten Spiel überfordert gegen die flinken slowenischen Rückraumspieler. Der Bundestrainer reagierte zwar umgehend und tauschte Roschek gegen Lemke, sah sich aber fortan mit dem Verdacht konfrontiert, dass es zwischen Trainer und Team nicht stimme.

Die Debatte nahm angesichts der schmeichelhaften Unentschieden gegen Slowenien und Mazedonien (je 25:25) Fahrt auf. Und war in der Hauptrunde auch durch den 22:19-Sieg gegen Tschechien, der überdies erst in den letzten zehn Minuten gelang, und die Leistungssteigerung bei der 25:26-Niederlage gegen Dänemark nicht mehr zu bremsen. Zwei Siege, zwei Unentschieden, zwei Niederlagen - ein schlechtes Zeugnis für einen Titelverteidiger. Lemke versicherte nach der Spanien-Pleite, dass "die Mannschaft intakt ist, da gehört auch der Trainerstab dazu". Auch Steffen Weinhold - wie Lemke ein meinungsbildender Mann im Team - sagte, er habe keine atmosphärischen Störungen erlebt. Die Abwehr, in der das kreative Moment eine kleinere Rolle spielt als im Angriff, funktionierte auf hohem Niveau, freilich erst nachdem Prokop nachjustiert hatte; auch kämpferisch kann man den Spielern wenig Vorwürfe machen. Aber wie sind so viele technische Fehler, eine so offensichtliche Ideenlosigkeit, eine um sich greifende Verunsicherung zu erklären?

Bob Hanning, der DHB-Vizepräsident Sport, erbat am Donnerstag noch Zeit, aber in zwei bis vier Wochen werde alles "sehr hart und sehr ehrlich" analysiert sein: "Wir werden alles hinterfragen, das fängt bei mir an, betrifft den Trainerstab und jeden einzelnen Spieler." Denn es gebe eine "unverhandelbare Vision", sagte Hanning, das sei die olympische Goldmedaille 2020 in Tokio. Die Vorbereitung darauf "beginnt mit dem heutigen Tag". Man dürfe jetzt nicht alles schlechtreden, mahnte er noch, aber die vorhandenen Teile "konnten nie zu einem Puzzle zusammengefügt werden. Wir haben nicht die Leistung gezeigt, die wir erwarten konnten. Es fehlt nicht viel, aber genug, dass wir jetzt hier so sitzen. Das haben wir verdient." Prokop saß neben Hanning und lauschte seinem Vorgesetzten mit versteinerter Miene.

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SZ vom 26.01.2018
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