Süddeutsche Zeitung

Handball-EM:Deutschlands Handballerinnen hoffen auf den Bietigheim-Effekt

Lesezeit: 3 min

Mit ihrem Handballklub Bietigheim hat Julia Maidhof fünf Titel in 19 Monaten gewonnen. Nun soll das Erfolgskonzept bei der EM auch im Nationalteam greifen.

Von Ulrich Hartmann

Den Rausch des Erfolgs hat die Handballerin Julia Maidhof erst in jüngster Zeit kennengelernt. Mit dem Bundesliga-Klub SG BBM Bietigheim hat die 24-Jährige in den vergangenen 15 Monaten Meisterschaft, Pokal, die European League sowie zwei Mal den deutschen Supercup gewonnen. Kann man nach Titeln süchtig werden? "Oh ja", antwortet sie mit leuchtenden Augen, "man will das immer wieder erleben."

In der Jugend war Maidhof diesbezüglich nicht besonders verwöhnt, als B-Jugend-Hessenmeisterin mit der HSG Bensheim/Auerbach und bayerische Meisterin im künstlerischen Tanz mit der Schulmannschaft in Aschaffenburg. Nicht vergleichbar mit dem, was sich die derzeit beste deutsche Rückraum-Shooterin in nächster Zeit erträumt: eine gute Platzierung mit dem Handball-Nationalteam bei der am Samstag beginnenden Europameisterschaft; im kommenden Frühjahr mit ihrem Klub Bietigheim vielleicht sogar den Champions-League-Titel. "Das wäre ein absoluter Traum", sagt sie.

In Bietigheim nördlich von Stuttgart ist Julia Maidhof, die nebenher Grundschullehramt studiert, handballerisch ziemlich verwöhnt, denn dort haben sie einen Kader zusammengestellt, der national und teils auch international seinesgleichen sucht. Zwischen dem 31. März 2021 und dem 23. Oktober 2022 war Bietigheim binnen 19 Monaten in 63 Pflichtspielen unbesiegt. Alle fünf Titel fielen in diesen Zeitraum. Am vorvergangenen Sonntag in Odense/Dänemark hat es die Mannschaft in der Champions League dann erstmals wieder erwischt. "Es war zu erwarten, dass diese Serie irgendwann zu Ende geht", sagt Maidhof, sie klingt dabei recht gelassen.

Das DHB-Team der Frauen hat seit 2008 kein Halbfinale mehr erreicht

Einen Tag später reiste sie zur Nationalmannschaft, mit der sie sich auf die Europameisterschaft vorbereitet, die am Samstag in Montenegro, in Podgorica, mit einem Spiel gegen Polen beginnt und am Montag gegen die Gastgeber aus Montenegro sowie nächsten Mittwoch gegen Spanien fortgesetzt wird. Ihre Sehnsucht nach Titeln wird Maidhof mit dem Nationalteam vermutlich eher nicht stillen können. 2020, bei ihrer ersten EM, verpasste die Auswahl das Halbfinale knapp, bei ihrer ersten WM 2021 scheiterten sie und ihre Kolleginnen im Viertelfinale an Spanien. In einem Halbfinale standen deutsche Nationalhandballerinnen seit 2008 nicht mehr.

Der zunehmende Nerven- und Kraftverlust in entscheidenden Turnierspielen ist ein wiederkehrendes Motiv in der deutschen Frauenauswahl. "Wir müssen lernen, in der Crunch-Time kühlen Kopf zu bewahren", sagt Maidhof. In Bietigheim gelingt ihnen das ganz gut, woraus die Hoffnung erwächst, dass die Bietigheimer Fraktion im Nationalteam einen positiven Einfluss auf die anderen Spielerinnen hat: Maidhof im rechten Rückraum, Xenia Smits im linken Rückraum, Jenny Behrend auf Rechtsaußen sowie der Bundestrainer, Markus Gaugisch, repräsentieren Deutschlands besten Klub im Nationalteam.

Gaugisch, 48, hat im Frühjahr das Amt des Bundestrainers vom Niederländer Henk Groener übernommen und erfüllt es bis zum Ende dieser Saison, zusätzlich zu seinem Job in Bietigheim. Dann hört er dort auf und wird exklusiv Bundestrainer.

"Seine Idee des Spiels habe ich natürlich längst verinnerlicht", sagt Maidhof, die seit zwei Jahren unter Gaugisch in Bietigheim spielt. Den Tempohandball mit zupackender Defensive und variabler Offensive wollen sie ungefähr so auch in der Nationalmannschaft spielen. Sie gehen mit dem Ziel ins Turnier, in den drei Gruppenspielen eine möglichst gute Ausgangssituation zu schaffen für die Zwischenrunde, in der es um die Plätze fürs Halbfinale geht. Sie wollen endlich mal unter die besten Vier, auch mit Blick auf die WM 2025, die in Deutschland und den Niederlanden stattfindet.

Dass die EM als das traditionell große Turnier am Jahresende diesmal bereits im November - und nicht wie sonst im Dezember - ausgetragen wird, liegt an der Fußball-WM in Katar. Diese Vorverlegung hat für die deutschen Spielerinnen zur Folge, dass sie nach dem Turnier in ihren Klubs nahezu nahtlos weiterspielen müssen. Für Maidhof stehen Ende November und Anfang Dezember in allen drei Wettbewerben sofort wieder hochbrisante Spiele im Kalender: am 27. November das Spitzenspiel in der Bundesliga beim bislang ebenfalls verlustpunktfreien Thüringer HC, am 30. November das Achtelfinale im Pokal bei Bayer Leverkusen, am 4. Dezember ein Champions-League-Gruppenspiel daheim gegen Brest.

"Im November sind fast alle Bietigheimer Spielerinnen mit ihren Nationalteams unterwegs", sagt Maidhof, "ich hoffe, sie kommen alle gut durch." Zwei, drei Tage habe sie danach bloß zum Verschnaufen. Kräfte schonen wird sie bei der EM deswegen natürlich auf gar keinen Fall. Wenn alles besonders gut klappt, würden sie sogar noch am finalen Wochenende (19./20. November) in Ljubljana/Slowenien mitspielen.

Das wäre Julia Maidhof am allerliebsten. Dann kehrte sie zwar mit weniger Pause, aber umso beschwingter heim nach Bietigheim, wo viele Herausforderungen warten auf jene Handballerin, die den Rausch des Erfolgs immer wieder erleben will.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5686555
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.