Süddeutsche Zeitung

Gehirnerschütterungen im Sport:Aus das Trauma

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Einst galt eine Gehirnerschütterung als Episode kurzer Bewusstlosigkeit ohne Folgen. Heute wissen Ärzte: Der Schaden kumuliert. Daher wollen Mediziner jetzt Eishockey- und Handballspieler besser schützen. Auch der Fußball steht auf dem Prüfstand.

Werner Bartens

Womöglich sind die Schläge auf den Kopf der Grund dafür, warum Interviews mit Spitzenathleten häufig so dünn ausfallen. "Ich hatte oft Gehirnerschütterungen, aber das war keine große Sache", sagt Maurice Jones-Drew, Footballspieler der US-Profiliga NFL. Der 26-Jährige gehört zu der Mehrzahl Spieler, die bekennen, dass sie Symptome einer Gehirnerschütterung lieber verschweigen, um nicht ausgewechselt oder gar für mehrere Spiele auf die Ersatzbank verbannt zu werden.

Wer sich nicht selbst schützt, muss vom Staat geschützt werden - nach diesem Motto gilt seit Jahresbeginn in Kalifornien ein Gesetz für mehr Sicherheit im Jugend- und Studentensport, mit dem Nachwuchsathleten vor einer Gehirnerschütterung und deren Spätfolgen bewahrt werden sollen.

Demnach werden Spieler mit Gehirnerschütterung sofort vom Spiel ausgeschlossen und dürfen nur mit ärztlichem Attest beim nächsten Spiel wieder mitmachen. Zudem müssen Schüler wie Eltern jedes Jahr ein Informationsblatt unterschreiben, in dem sie über mögliche Folgen einer Gehirnerschütterung aufgeklärt werden.

Die Fachwelt diskutiert vehement, ob Spitzenathleten in Kontaktsportarten nicht gefährdet sind, sich ihr Gehirn auf Dauer zu ruinieren", sagt Florian Heinen, Chef der Neuropädiatrie am Haunerschen Kinderspital München und damit Experte für die Entwicklung des Gehirns.

"Kommt das Trauma unvorhergesehen, kann man sich ja kaum davor schützen." Während Rennfahrer starke Fliehkräfte erwarten und ausgleichen, indem sie ihre Nackenmuskeln trainieren, kommt der Stoß bei Football, Eishockey oder Handball meist unvermittelt.

Ärzte erkennen mit detaillierten Kernspinaufnahmen bei Sportlern immer öfter Schädigungen des Gehirns. "Bei Erschütterungen werden feinste Nervenbahnen überdehnt", sagt Heinen. "Irgendwann sind die Nervenzellen überstrapaziert wie ein poröses Gummi und funktionieren nicht mehr."

In vielen Sportarten zeigen sich Spätfolgen: Kanadas Eishockey-Crack Eric Lindros hatte nach etlichen Gehirnerschütterungen starke Leistungseinbußen in den letzten Jahren seiner Karriere. Aktuell bangen Fans um den 24-jährigen Eishockey-Star Sid Crosby, der fast das ganze Jahr 2011 pausieren musste, nachdem er mehrere Gehirnerschütterungen im Spiel erlitten hatte.

Heinen vergleicht die fragile Verankerung des Gehirns am Rückenmark mit einem großen Blumenkohl auf einem dünnen Stiel. Bei schneller Beschleunigung oder Bremsung werden die Nervenzellen belastet. Früher galt die Gehirnerschütterung als Episode kurzer Bewusstlosigkeit ohne bleibende Folgen. Heute wissen Ärzte: Der Schaden kumuliert.

Von Verboten wie in Kalifornien hält Heinen trotzdem nichts. "Sportler werden aus Angst um ihre Karriere das Gesetz umgehen", befürchtet der Arzt. "Man kann aber Regeln hinterfragen: Wieso darf man beim Eishockey Gegner an der Bande zerquetschen und beim Football die Köpfe gegeneinander rammen?"

Auch der Fußball steht aus wissenschaftlicher Sicht auf dem Prüfstand. Im November stellten Neurologen vom renommierten Einstein-College Befunde vor, die eindeutig zeigen, dass beim Kopfball Schlimmeres im Gehirn passiert, als bisher angenommen wurde. Dazu passt, dass Fußballer die ersten zwei Tage nach dem Spiel schlechter komplexe Figuren nachzeichnen und Rechenaufgaben lösen können als Leichtathleten oder Schwimmer.

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Quelle:
SZ vom 04.01.2012
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