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Fairness bei der Fußball-WM:Aufrappeln, weitermachen!

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Von Tim Brack, Rennes

Von einer der ursprünglichen Ideen des modernen Fußballs ist im Moment nicht immer allzu viel zu erkennen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lehrte dieser Sport in den Eliteschulen von England, wie sich ein wahrer Gentleman zu benehmen habe. Wohlhabende Privatschüler bekamen Ehrlichkeit und Selbstdisziplin vermittelt, um für das Leben gewappnet zu sein.

Ein Blick in die Moderne dazu: Bei der Copa América fuchtelte der Uruguayer Luis Suárez wild mit den Armen, weil ein gegnerischer Spieler den Ball im Strafraum mit der Hand berührt hatte - dass es sich dabei um den Torhüter gehandelt hatte, spielte für ihn keine Rolle. Die Selbstverständlichkeit, den Schiedsrichter durch Lamentieren beeinflussen zu wollen, überlagerte jegliche Vernunft. In einigen russischen Stadien sind auf den Rasen womöglich noch immer Rollspuren des Brasilianers Neymar zu sehen, der bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Sommer zumindest mit seiner Theatralik stilbildend war.

Dass die hehren Ziele aus der Anfangszeit des modernen Fußballs aber noch nicht ganz vergessen sind, führen bei ihrer WM in Frankreich gerade viele Fußballerinnen vor. Müssen Frauen sich in Vergleichen sonst noch oft vorwerfen lassen, langsamer zu spielen und weniger kraftvoll (Argumente übrigens, die rein auf biologischen Unumstößlichkeiten beruhen), so sind die Fußballerinnen den Männern eindeutig voraus, was den sozialen Stil auf dem Platz angeht.

Es gibt auch Fußballerinnen, die sich weniger fair verhalten

Wer gefoult wird, bleibt nicht lange liegen, außer die Schmerzen sind wirklich zu groß. Ansonsten heißt es: aufrappeln, weitermachen! Hier gibt's nichts zu sehen! "Wir stehen einfach für ehrlichen Fußball", sagt die deutsche Nationalspielerin Giulia Gwinn zu diesem Phänomen: "Bei uns ist es schön zu sehen, dass man schnell wieder aufsteht, dass man gut miteinander umgeht, dass es nicht viel Schauspiel gibt."

Es gibt natürlich auch Fußballerinnen, die sich weniger fair verhalten. Aber in der Breite fällt auf, dass die Frauen es deutlich eiliger haben, möglichst schnell wieder gegen den Ball zu treten - es gibt kaum Theatralik und kaum Reklamationen. "Wir akzeptieren Entscheidungen, die der Schiedsrichter trifft, und diskutieren nicht lang", erklärt die deutsche Stürmerin Klara Bühl, "weil wir wollen, dass das Spiel weitergeht und dass wir im Rhythmus bleiben." Unterbrechungen seien "semioptimal".

Diese Ritterlichkeit führt zum einen dazu, dass die Nettospielzeit steigt; zum anderen erschwert sie paradoxerweise den Einsatz des Video Assistant Referee (VAR) bei der WM. "Das ist sicherlich ein Problem, weil man denkt immer wieder, irgendwo muss doch ein Protest sein", hatte der deutsche Unparteiische Bastian Dankert, der bei der WM als Videoschiedsrichter im Einsatz ist, dem ZDF vor Turnierbeginn erklärt. Selbst bei klaren Handspielen oder Fouls machten die Fußballerinnen einfach weiter, so Dankert. Die schöne Gutschrift auf dem Nettospielzeit-Konto verbraucht der VAR bei dieser WM dann übrigens oft selbst mit seinen langen Überprüfungen.

Manchmal möchte man den Spielerinnen zurufen: Beschwert euch mehr! Immer dann nämlich, wenn die Schiedsrichterinnen es verpassen, eine Eskalation der Foulerei zu unterbinden. Die Unparteiischen versäumen bei der WM oft den Moment, mit einer gelben oder roten Karte dazwischenzugrätschen und Spielerinnen zu zügeln.

Im Auftaktspiel der DFB-Elf beispielsweise traten die Chinesinnen so munter und offenbar auch bewusst drauflos, dass unter anderem der Zeh von Deutschlands bester Spielerin Dzsenifer Marozsan brach. Von solchen Widrigkeiten sollten sich die Fußballerinnen ihre grundsätzlich vorbildliche Fairness aber nicht zerstören lassen. Andere müssen sich in dem Prozess anpassen - aber nicht die Spielerinnen.

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SZ vom 28.06.2019
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