Süddeutsche Zeitung

Fußball in England:Tottenham tappt im Übermut in die Falle

Lesezeit: 3 min

Von Sven Haist, London

Fluchtartig verließen die Fans der Tottenham Hotspur ihre Sitzplätze. Keiner von ihnen wollte es ertragen, die eigene Mannschaft in Wembley wieder verlieren zu sehen. Von den Stadiontoren rannten einige gar zur nahe gelegenen Bahnstation. So schnell wie möglich weg, einfach weg von den Erinnerungen an das Stadion und den FC Chelsea, den Stadtrivalen, der den Spurs in der jüngeren Vergangenheit schon so einige desillusionierende Momente zugefügt hatte.

Da wäre das verlorene Ligapokalfinale im März 2015, als Chelsea den Emporkömmlingen aus Tottenham in der Debütsaison ihres Trainers Mauricio Pochettino den Titel wegschnappte. Die Schmähgesänge in der vergangenen Spielzeit, als ein Unentschieden der beiden Vereine den Traum der Spurs von der ersten Meisterschaft in der Premier League beendete.

Die Gedanken an diese Erlebnisse kamen nun in die Köpfe der Fans zurück. Und auch in die der Spieler: An der Seitenlinie kauerte Spielmacher Dele Alli nach Abpfiff am Boden, Harry Kane lief am Mittelkreis in sich gekehrt umher. Begutachtet vom traurigen Blick des Vorsitzenden Daniel Levy auf der Ehrentribüne.

"Chelsea war abgezockter"

Chelseas 4:2 (2:1) im Halbfinale des FA-Cups hat Wunden aufgerissen bei Tottenham, von denen der Verein bereits überzeugt gewesen ist, dass sie verheilt waren. "Wir sind sehr enttäuscht", sagte Pochettino. "Ich finde, dass wir mehr verdient hätten, weil wir das Spiel dominiert haben. Aber Chelsea war abgezockter." Chelsea benötigte für vier Tore lediglich fünf Torschüsse.

Seit 1991 warten die Tottenham Hotspur auf einen Pokalsieg in England. Über die siebte Halbfinalniederlage nacheinander ließe sich ja drüber hinwegsehen (Pochettino: "Ich kann die Vergangenheit nicht ändern"), aber vermutlich bleibt es nicht bei dieser Auswirkung. Das verlorene Spiel dürfte ebenso Einfluss nehmen auf die Entscheidung in der Meisterschaft. Zeitweise besaß Chelsea einen Vorsprung von 13 Punkten auf den Tabellen-Zweiten Tottenham. Mit dem besten Lauf seit 1967 (sieben Erfolge am Stück) und dem Heimnimbus (noch ungeschlagen an der White Hart Lane) reduzierten die Spurs den Rückstand auf vier Punkte. Das Momentum schien gekippt zu sein - bis Chelseas Nemanja Matic am Samstagabend den Ball aus 30 Metern Entfernung zum Endstand in den Torwinkel knallte. Und Chelsea damit ins FA-Cup-Finale am 27. Mai.

Tottenhams Phobie hält also an: vor Chelsea, vor Wembley. Zum Leidwesen der Spurs trägt der englische Verband seit Dekaden im Pokal die Halbfinals und das Endspiel im Nationalstadion aus. Von den vergangenen neun Spielen haben die Spurs dort bloß eines gewonnen. Das kostete den Klub schon das Überstehen der Gruppenphase in der Champions League und jegliche Ambitionen in der Europa League. Die internationalen Partien hat Tottenham ins Wembley verlegt, weil die Umbaumaßnahmen an der eigenen Arena zu gravierend sind. In der kommenden Saison droht das Szenario gar für jede Partie.

Wembley besitzt mit seiner Kapazität von knapp 90 000 Zuschauern etwas Furchteinflößendes für Tottenham. Zum Vergleich passen an der heimischen White Hart Lane nicht mal halb so viele rein. Diese Größe kann einem Mut machen, genauso jedoch einschüchtern. Hauptsächlich leiden die Spurs unter der Dimension des Spielfelds, deren ausgeprägte Maße das frühe Attackieren erschwert. Die Laufwege werden weiter, die Absicherung vor Kontern schwieriger.

Erst recht für die unerfahrenen Profis der Spurs, die mit dem Anlass an sich genug beschäftigt waren. Im Aufgebot ließ sich niemand finden, der wusste, wie es ist, eine internationale Trophäe in Händen zu halten oder zumindest einen Titel auf der Insel zu gewinnen. Während andere Vereine sich diese Erfahrung durch Zugänge dazu kaufen, möchte Tottenham, dass die eigenen Spieler diese Erfahrung selbst machen. Die Geduld allerdings, speziell bei den Fans, lässt nach.

Vor dem Anstoß dachten die Spurs ja wirklich, dass sie jetzt bereit sind, in einem bedeutenden Spiel das ausgebuffte Chelsea zu bezwingen. Zumal Trainer Antonio Conte mit Eden Hazard und Diego Costa seine beiden besten Offensivakteure auf die Bank setzte. Dieses Manöver war eine Falle - und Tottenham fiel im Übermut darauf rein. Die Sun titelte am Sonntag: "Contes große Risiko zahlt sich aus."

Conte ist zu Witzen aufgelegt

In kindlicher Euphorie stürmte Pochettinos Team nach vorne, egalisierte zweimal einen Rückstand durch Chelseas Willian. Als Conte jedoch seine beiden Szenespieler aufs Feld beorderte und das Spiel in seine entscheidende Phase ging, hatten sich die Spurs verausgabt. Eine Viertelstunde benötigte Hazard, um dem Spiel mit dem 3:2 eine Richtung zu geben. Matic beseitigte letztlich die Restzweifel an Contes erster Finalteilnahme mit Chelsea. Vergessen war auf einmal das 0:2 in der Vorwoche bei Manchester United und die Frage, ob das bis dahin beste Team der Saison ihre beiden Titeloptionen noch verspielen würde.

Die Erleichterung darüber war Conte anzumerken. Auf dem Weg zum Mannschaftsbus machte er bereitwillig Fotos und witzelte mit den Reportern. Schluss war erst, als Abwehrspieler David Luiz auftauchte: "Hey Boss, lass uns gehen." Der FC Chelsea, sollte das heißen, hat noch etwas vor in dieser Saison.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3474332
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.