Süddeutsche Zeitung

Frankreich bei der Fußball-EM:Dimitri Payet, Spezialist für Nervenkitzel

Lesezeit: 3 min

Von Maik Rosner, Marseille

Dimitri Payet schien später noch immer ganz berauscht vom späten Glück. Ein Kompliment nach dem anderen verteilte er, und wäre der Mittelfeldspieler nur gefragt worden, er hätte ganz sicher auch lobende Worte für den Stadionarchitekten, den Hafenvorsteher und die Metrofahrer von Marseille gefunden. Dass er sich in seinen Hymnen zudem ausgiebig selbst bedachte, sprach nicht nur für sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, sondern auch für einen wenig schamhaften Realitätssinn. Denn neben Antoine Griezmann hatte Payet ja in der Tat dieses auf den letzten Drücker erzwungene 2:0 gegen Albanien geprägt und damit maßgeblich zum vorzeitigen Erreichen des Achtelfinales beigetragen.

"Wieder einmal habe ich den Unterschied gemacht"

Der eingewechselte Griezmann hatte mit seinem Kopfballtor nach Adil Ramis Flanke das entkrampfende 1:0 in der 90. Minute erzielt. Payet ließ das zweite Tor folgen, in der sechsten Minute der Nachspielzeit, also sogar noch später als beim 2:1-Auftaktsieg gegen Rumänien, als er in der 89. Minute für die Erlösung gesorgt hatte.

"Wieder einmal habe ich den Unterschied gemacht", ließ der 29-Jährige nun unbescheiden wissen und erinnerte an einen 3:2-Testspielsieg gegen die Niederlande im März, bei dem man bereits gezeigt habe, "dass wir Spiele spät gewinnen können". Damals war dem Kollegen Blaise Matuidi in der 88. Minute das entscheidende Tor gelungen. Doch Payet ist für die "Marotte", wie Trainer Didier Deschamps den Hang zum späten Treffer später nannte, eindeutig der Spezialist. In einem weiteren Test, beim 3:2-Sieg gegen Kamerun, hatte Payet sein Faible für den Nervenkitzel mit einem Treffer in der 90. Minute bereits unter Beweis gestellt.

In seinen Lobreden schlug er nun den Bogen zu seiner fernen Heimat La Réunion, einer Insel östlich von Madagaskar. "Ich weiß, dass die Insel hinter mir steht und sehr stolz auf mich ist", sagte Payet. Zu seiner Ehrenrettung sei erwähnt, wie huldvoll seine Elogen auch auf andere gerieten. "Er hat das Spiel für uns gewonnen. Griezmann hat gezeigt, wozu er fähig ist", sagte Payet etwa über den Mitte der zweiten Halbzeit für Bayern Münchens Kingsley Coman eingewechselten Kollegen. Und auch den ebenfalls erst zur Pause hereingekommenen Paul Pogba bedachte Payet, zumindest indirekt: "Die Einwechselspieler haben den großen Unterschied gemacht."

Pogba saß auf der Bank - wegen seiner Badelatschen

Wer wollte, konnte das gar als latente Kritik an Deschamps Startelf deuten. Denn Pogba und Griezmann zunächst draußen zu lassen, war zwar nicht mehr völlig überraschend gekommen nach deren Auswechselung im Rumänien-Spiel und den Debatten danach, in denen der Trainer einen Verzicht schon in Aussicht gestellt hatte. Dass er diesen nun tatsächlich wahrmachte, trug allerdings Züge einer Majestätsbeleidigung, jedenfalls im Fall Pogba. Bei Griezmann ging es nach der langen und schlauchenden Saison mit Atlético Madrid ja eher um Schonung. Bei Pogba aber handelte es sich offenbar um eine Disziplinarmaßnahme. Das jedenfalls berichtete L'Équipe. Demnach sei der Spieler von Juventus Turin verspätet zum Frühstück gekommen - und noch dazu in Badeschlappen. Damit habe er gegen die Kleiderordnung verstoßen.

Deschamps selbst gab nach dem Spiel an, er habe "allein aus taktischen Gründen" einen Bankplatz verfügt. "Ich wollte mehr Geschwindigkeit und Schlagzahl auf den Seiten haben. Paul hat andere Qualitäten", erklärte der Trainer, warum er stattdessen zunächst Anthony Martial und Coman aufgeboten habe. Er wisse, fügte er hinzu, dass weder Griezmann noch Pogba erfreut über diese Entscheidung gewesen seien. "Aber ich wechsele, wenn mir etwas nicht passt. Ich habe Lösungen auf der Bank, um dem Team einen Schub zu geben", sagte Deschamps.

Als mutig ließ sich dieses Vorgehen einstufen, und da Frankreich besonders in der ersten Halbzeit erneut wenig überzeugend aufgetreten war, gehen die Debatten vorerst weiter, wenngleich nicht in jener Schärfe, die ein eher blamables 0:0 gegen den krassen Außenseiter nach sich gezogen hätte. Torwart Hugo Lloris jedenfalls entschied sich, den späten Sieg als Ausdruck einer besonderen Qualität zu deuten. "Wir haben Reife gezeigt, weil wir bis zum Ende geduldig geblieben sind. Diese Geduld ist mit schönen Toren belohnt worden", sagte er. Und Coman befand: "Es gibt bei diesem Turnier keine Außenseiter".

In jedem Fall aber gibt es vorerst ein neues prägendes Gesicht in der französischen Nationalmannschaft. Nicht Paul Pogba, der für diese Rolle vorgesehen war, entzückt die Franzosen. Sondern West Ham Uniteds Profi Dimitri Payet, der Spezialist für die späten Tore.

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