Süddeutsche Zeitung

Flügelstürmer Coman und Januzaj:Sie zerstören Systeme

Lesezeit: 3 min

Von Christof Kneer, München

Er sei "ein Spieler, der den Unterschied macht, und zwar in jeder Minute des Spiels" - mit diesem recht bescheidenen Satz hat sich der Franzose Kingsley Coman, 19, in dieser Woche beim FC Bayern vorgestellt. Man kann diese Selbsteinschätzung gerne stichprobenartig überprüfen, zum Beispiel anhand des letzten großen Spiels, das von Kingsley Coman aktenkundig ist.

Am 6. Juni 2015 wurde er, damals noch im Trikot von Juventus Turin, in der 89. Minute des Champions-League-Finales eingewechselt, und weil der Schiedsrichter sieben Minuten nachspielen ließ, hatte Kingsley Coman also genau acht Minuten Zeit, um den Unterschied zu machen. Und was soll man sagen? Er hat nicht zu viel versprochen. Er hat das Spiel tatsächlich verändert.

Als Coman ins Spiel kam, lag seine Mannschaft 1:2 hinten. Acht Minuten später hatte sie 1:3 verloren.

Man kann festhalten, dass es sich bei Kingsley Coman um einen selbstbewussten jungen Herrn handelt. Der Franzose sagt Sätze, die noch nicht so viele 19-Jährige gesagt haben, die neu zum FC Bayern gekommen sind. Nach Lage der Dinge war das diesmal aber wohl eine Einstellungsvoraussetzung, denn selbst beim hierarchisch geprägten Führungsspieler-Verein aus München sind Neulinge, die viel von sich halten, zurzeit ausdrücklich erwünscht. Kingsley Coman steht für eine Erkenntnis, gegen die sich der moderne, gruppendynamisch durchorganisierte Fußball nicht mehr wehren kann. Die Erkenntnis heißt: Frechheit siegt.

Er könne ein Spiel "in jedem Moment rausreißen", hat Coman bei seinem ersten Auftritt in München übrigens auch noch gesagt. Früher hätten sie so einen erst mal das Tor tragen lassen, und Stefan Effenberg oder Mark van Bommel hätten genüsslich hin und her überlegt, mit welcher Art von Foul man so einen Rotzbengel im Training am besten willkommen heißt. Im Jahr 2015 würden sie sich mit solchen pädagogischen Maßnahmen beim Trainer aber ziemlich unbeliebt machen, denn zurzeit stehen die Rotzbengel unter Artenschutz. Man braucht sie dringend. Sie sind es doch, die ein Spiel entscheiden.

Als Pep Guardiola in München anfing, stand er nicht in dem Ruf, ein Liebhaber des Flügelspiels zu sein. Sein Ansatz war eher, den Gegner mit tausend schnellen Pässen auseinanderzuspielen, und nur wenn sich partout keine Lücke fand, sollte der Ball hinaus zu den Spezialisten am Seitenrand. Derselbe Guardiola hat in der abgelaufenen Transferperiode aber sehr darauf gedrängt, zwei Spezialisten für den Seitenrand zu erwerben, neben dem Brasilianer Douglas Costa wurde deshalb kurz vor Transferschluss noch der Nachwuchsdribbler Coman von Juventus Turin ausgeliehen, für etwa sieben Millionen Euro.

Guardiola habe in München die Flügel lieben gelernt, sagen sie bei Bayern, er habe gemerkt, dass er auch andere Lösungen brauche, wenn der eher mittig geschnittene Pass-Pass-Pass-Fußball mal nicht funktioniere. Das Champions-League-Halbfinale in Barcelona wirkt als Trauma bis heute nach: Mit den verletzten Arjen Robben und Franck Ribéry fehlten jene wilden Kerle, die das Spiel mit ihrem Tempo hätten rausreißen können, wie der bescheidene Monsieur Coman sagen würde.

Der Fußball hat sich mannschaftstaktisch sehr zu seinem Vorteil entwickelt in den vergangenen Jahren, aber nun, da die Systeme optimiert und die Profis akademisch gedrillt sind, scheinen sich wieder jene undressierten Instinktspieler ihr Recht zu verschaffen, die sich auch mal über ein System erheben können. Vor ein paar Jahren waren die sog. Individualisten noch das Kür-Element in einer Elf, es war ganz nett, sie zu haben, solange sie bloß nicht das System zerstörten. Im Moment sind sie Pflicht, weil man sie braucht, um das System des Gegners zu zerstören.

Auch Dortmund holt frechen Flügelspieler

Der alte Bayern-Rivale aus Dortmund hat im Übrigen gerade eine Art Parallel-Transfer vollzogen, Dortmunds Coman heißt Adnan Januzaj und ist 20 Jahre jung. Der junge Belgier, frisch ausgeliehen von Manchester United, ist ebenfalls ein Rausreißer und Unterschiedmacher, auch er kann mit scharfkantigen Dribblings jene hochwertig geschmiedeten Abwehrketten durchtrennen, die gute Mannschaften heute in Serie anfertigen.

Januzaj wird am Wochenende schon in der Startelf des BVB erwartet, während Coman in München vermutlich erst mal auf der Bank Platz nehmen wird. Sollte er allerdings spielen, werde er "explodieren" - diesen schönen Satz hat der bescheidene Monsieur Coman ausnahmsweise nicht selbst gesagt. Der Satz stammt von Matthias Sammer.

Der Trend zum Solisten, der eine Mannschaftssportart bereichert, ist inzwischen in fast allen europäischen Spitzenteams angekommen, mit einer Ausnahme. Der Champions-League-Finalist Juventus Turin lässt seinen Fußball nach wie vor vor allem durchs Zentrum laufen, deshalb haben die Italiener auch nicht um Coman gekämpft. Die Bayern haben sich eine Kaufoption gesichert, für etwa 20 Millionen werden sie den Lausbuben in zwei Jahren erwerben können. Die Turiner dagegen suchen eher noch einen weiteren Feinfuß für ihre Zentrale: Im nächsten Sommer, heißt es, würden sie wohl noch mal um Mario Götze werben.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2015
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