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European Championships:Der schmale Grat nach München

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Zwei Jahre lang hat das Projekt "Class of 22" Athletinnen und Athleten auf dem Weg zu den European Championships in München begleitet. Nicht alle sind angekommen.

Von Andreas Liebmann

Er hat damals den Anfang gemacht. Class of 22, Episode 1. Superzeitlupen, Magnesiastaub, dynamische Musik. Fast auf den Tag genau zwei Jahre ist das nun her. Man sieht den Turner Felix Remuta, heute 24 Jahre alt, im Video oben ohne am Reck trainieren, sieht, wie er von der Stange rücklings auf eine Weichbodenmatte fällt, wie er mit seinem Trainer sofort die Handybilder analysiert (wie wurde so etwas eigentlich früher gemacht?), hört ihn im Interview über seine Sportart und seine Träume reden.

Zwei Jahre danach, an diesem Donnerstag, beginnen in München die European Championships, jene Großveranstaltung, die Europameisterschaften aus neun verschiedenen Sportarten bündelt. Felix Remuta, geboren in Holzkirchen südlich von München, ausgebildet beim TSV Unterhaching, wird nicht dabei sein. Auf seiner Instagram-Seite hatte er den Countdown noch fleißig heruntergezählt. Möglicherweise ist es Zufall, dass seine Stimme ausgerechnet bei dem Satz brüchig klingt: "Nein, ich bin leider nicht dabei."

Die Idee des Projekts vor zwei Jahren war es, überwiegend lokale Sportlerinnen und Sportler auf dem Weg zu diesem Mini-Olympia zu begleiten, dem Publikum die heimischen Protagonisten, deren Sportarten und deren Trainingsalltag in monatlichen Videos näherzubringen. Als das Projekt dort feierlich vorgestellt wurde, erstrahlte das ehrwürdige Olympiastadion im Abendrot.

Zwei Jahre später kann man also, obwohl die Wettkämpfe noch nicht mal begonnen haben, eine erste Bilanz versuchen. Sie lautet: Ganz schlecht waren die Porträtierten nicht ausgewählt. Die Mehrzahl von ihnen wird dabei sein in München. Eine hundertprozentige Trefferquote wäre unrealistisch gewesen.

Alma Bestvater hat sich die Schulter ausgekugelt - und rechtzeitig erholt. Sie wird am Königsplatz klettern

Die Kletterin Alma Bestvater war eine der 13 Auserwählten, bei ihr war es am Ende besonders spannend. "Sie hat bei uns sogar schon ein Praktikum gemacht", erzählt Manual Deutschmeyer, der Presseverantwortliche der Multi-EM. Denn die 26-Jährige, die in Weimar geboren ist, aber in München wohnt und trainiert und 2019 deutsche Meisterin in der olympischen Kombination war, hatte sich Ende Januar im Training die Schulter ausgekugelt. Die Prognose ließ wenig Hoffnung. Ihr letztes Video in der Class of 22 zeigte sie bei der Physiotherapie und in ebendiesem Praktikum, sie bedauerte, dass die EM in München doch das Jahreshighlight "war", für das sie so viel trainiert hatte. Dann aber verlief die Heilung besser als erwartet - und vor einem Monat, da wurde Bestvater trotz vieler verpasster Wettkämpfe tatsächlich nominiert. Dabei hatte sie allenfalls noch diese "verrückte Fantasie" gehabt hier zu starten, wie sie schreibt. "Glücklich, stolz und dankbar" sei sie nun.

Es sei übrigens, erklärt Deutschmeyer, ohnehin nicht das vorrangige Ziel dieser Aktion gewesen, dass es möglichst viele der begleiteten Athleten am Ende tatsächlich zu den Championships schafften. Sondern "spannende Dokus" anzufertigen, die den Sportlern eine Plattform geben - und dem Publikum tiefere Einblicke in den Athletenalltag. Ihm selbst bleibe davon haften, wie offen, nahbar und aufgeschlossen alle gewesen seien.

Tischtennis auf Skiern oder dem Olympia-Zeltdach: Sabine Winter sticht mit ihren Videos heraus

Wie gesagt, vielen ist es trotzdem gelungen, in München starten zu dürfen. Die Münchner 800-Meter-Läuferin Christina Hering hatte ihr Ticket schon lange sicher, die Para-Kanutin Felicia Laberer hat gerade erst in Halifax ihre erste WM-Medaille um den Hals gehängt bekommen (Bronze), und der Dachauer Ruderer Oliver Zeidler, Weltmeister im Einer, ist natürlich ebenso dabei wie Kanu-Olympiasieger Max Lemke. Weitere Klassenmitglieder, die die Versetzung geschafft haben: Lara Lessmann (BMX), Bo Kanda Lita Baehre (Stabhochsprung) und der Starnberger Beachvolleyballer Clemens Wickler, auch wenn dieser seit Beginn des Projekts mal eben seinen Partner wechseln musste, von Julius Thole zu Nils Ehlers. Thole, mit dem Wickler 2019 in Hamburg WM-Silber gewann, entschied sich im vergangenen Oktober überraschend, zugunsten seines Jurastudiums die Sportkarriere zu beenden. Und Sabine Winter, Tischtennisprofi vom TSV Schwabhausen, stach mit ihren bekannt verrückten Videos, in denen sie ihren Sport schon vor dieser Class of 22 auf Berggipfeln, Baumwipfeln und Skiern ausübte, ohnehin heraus. Für die Class of 22 probierte sie es auf Schlittschuhen gegen Eishockeyprofis des EHC Red Bull München und hoch oben auf dem Zeltdach des Olympiastadions. "Abgefahren", fand Deutschmeyer. Der Nürnberger Triathlet Simon Henseleit, 22, ist ganz kurzfristig für die Staffel ins Aufgebot gekommen, für seine drei Jahre jüngere Schwester Franca kam die EM noch ein bisschen früh.

Felix Remuta hat bis zuletzt gehofft. Den ersten Qualifikationswettkampf für die EM hat er trotz starker Schulterschmerzen noch mitgemacht, vor dem zweiten hat er dann aufgegeben. "Es ist, wie es ist, die Gesundheit geht vor", sagt er nun. Er wartet darauf, ob die Ergebnisse seiner MRT-Aufnahmen eine Operation erfordern, was dann auch seine Saison in der Deutschen Turnliga gefährden würde, und er versichert, auf jeden Fall trotzdem zum Anfeuern in die Olympiahalle zu kommen - und die Heim-EM dann eben auf diese Weise mitzuerleben.

Nicht alle sind dabei: Turner Felix Remuta aus Unterhaching muss wegen einer Verletzung passen

Ein besonderes Video hat er gedreht, gemeinsam mit der Bahnradfahrerin Gudrun Stock, beide in Uniform. Er als Landespolizist, sie als Bundespolizistin, vor den Kameras tauschten sie sich damals über ihre Berufsbilder aus. Auch das ist sicher einer der vielen Einblicke, den die Class of 22 geboten hat: Darin, wie groß der Aufwand der meisten Porträtierten für ihren Sport ist - und wie mühsam, damit finanziell über die Runden zu kommen. Gudrun Stock jedenfalls hat im Februar geheiratet, sie heißt nun Gudrun Frank, und sie hat ihre Karriere kurz vor dieser Heim-EM beendet. "Es wäre wirklich ein Heimspiel gewesen", sagt sie, "meine Eltern wohnen drei Kilometer vom Olympiapark entfernt."

Gudrun Stock, 27, hat vorausgeblickt damals in diesem Polizeivideo, hat erzählt, dass sie nach der Polizeimeisterin auch Polizeikommissarin werden wolle, dass es mit dem Sport schließlich schnell mal vorbei sein könne, vielleicht von einem Tag auf den anderen. Im März 2021 gewann sie noch die Sprintwertung bei einem Straßenrennen in den Niederlanden, die Form war gut. Bald aber bekam sie Schmerzen im Unterleib. Musste sich dann zwischen den Olympischen Spielen in Tokio, für die sie nominiert war und die immer ihr Traum gewesen seien, und einer Operation entscheiden, die ihre Chance wahren sollte, eines Tages Kinder zu bekommen. Die Entscheidung, erzählt sie, fiel schnell, dennoch sei eine Welt für sie zusammengebrochen. Und ihre Mannschaft ohne sie zum Olympiasieg radeln zu sehen, sei hart gewesen. Traurig war sie, wütend, "ich habe mich ungerecht behandelt gefühlt". Vom Schicksal, wohlgemerkt. Noch immer falle es ihr schwer, das Geschehene zu akzeptieren. Eine EM-Medaille hat sie, einen deutschen Rekord brach sie, "meinen Zenit habe ich aber sicher nicht erreicht, dafür ging die Kurve noch zu steil nach oben". Es kam dann noch mehr dazwischen, letztlich fand Gudrun Frank auch für München nicht mehr zurück in ihren Leistungssport. Erst vor wenigen Wochen hat sie ihr Karriereende beschlossen. Mit Abstand werde sie auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken, glaubt sie, aber so kurz vor München 2022 ist das mit dem Abstand so eine Sache.

Auch in einem der Videos hat sie vieles von dem erzählt, sehr offen, Episode 24, die letzte vor der EM. Ein besonders bewegender Einblick in ein Athletenleben. Gudrun Frank will trotzdem zum Zuschauen an die Bahnradstrecke kommen.

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