Süddeutsche Zeitung

DFB-Team bei der EM 2021:Hat Löw seine beste Elf schon gefunden?

Lesezeit: 4 min

Potenzielle Stammspieler wie Sané und Goretzka müssen befürchten, dass sie an ihren Konkurrenten im Team nicht mehr vorbeikommen. Doch gegen Ungarn wäre eine Veränderung der Aufstellung eher logisch als überraschend.

Von Philipp Selldorf, Herzogenaurach

Weltmeister, so lehrt der Weltmeister Rudi Völler, bleibt man ein Leben lang, einerlei was danach geschieht. Auch Thomas Berthold ist der Titel nicht aberkannt worden, obwohl er sich als Redner auf Demonstrationen gegen die Corona-Gebote in ein zweifelhaftes Licht gesetzt hat. Seine Mitspieler von damals fanden das zwar ebenfalls bedenklich, aber gar nicht so verwunderlich, weil sie bei Berthold (Lebensmotto: "Ich bin lieber mal dagegen") prinzipiell gar nichts wundert.

Es lässt sich außerdem nicht leugnen, dass Berthold noch ein bisschen mehr Weltmeister ist als Günter Hermann, der ebenfalls im italienischen Sommer 1990 zum deutschen Aufgebot gehörte. Berthold kam in sieben Spielen sieben Mal zum Einsatz, Hermann kein Mal, weshalb ihn alle zwei Jahre bei jeder EM oder WM garantiert ein Reporter anruft und fragt, wie es sich so lebt als Weltmeister ohne Einsatz. Hermann ist als Synonym des unbeschäftigten Reservisten sein eigener Mythos geworden, obwohl Frank Mill und Paul Steiner damals genauso wenig gespielt haben.

An Hermanns Legende hat sich auch dann nichts geändert, als 24 Jahre später Kevin Großkreutz das gleiche Schicksal ereilte. In der Verlängerung des Finales stand er zum ersten Auftritt schon bereit, doch plötzlich erhob sich der vielfach versehrte Bastian Schweinsteiger aus der Sofort-Behandlung am Spielfeldrand wie Lazarus.

Im aktuellen deutschen EM-Kader gibt es besonders viele Anwärter auf den Günter-Hermann-Titel. Mit Rücksicht auf die besonderen Saisonbelastungen hat die Uefa 26 Spieler zur Nominierung zugelassen, nur 23 dürfen allerdings im Kader fürs Spiel sein. Jamal Musiala, 18, hat bisher bei beiden Partien auf der Tribüne sitzen müssen. Das war für ihn nicht schön, doch in seinem Alter vielleicht auch nicht dramatisch.

"Solange das Team so erfolgreich ist, stelle ich mich gern hinten an", sagt Marcel Halstenberg

Mehr Gedanken als er machen sich vermutlich jene Kollegen, deren Karrieren schon deutlich fortgeschrittener sind. Sie müssen gerade befürchten, dass sich ihre Erwartungen womöglich nicht erfüllen werden, betroffen sind potenzielle Stammspieler wie Leroy Sané, Timo Werner, Niklas Süle und Emre Can sowie nicht ganz so hoch gehandelte Ersatzleute wie Kevin Volland, Florian Neuhaus oder Marcel Halstenberg. Letzterer durfte am Montag auf der DFB-Pressekonferenz vorsprechen, wo es dann prompt um den Mann ging, der auf seiner Position spielt.

Ob es für ihn ein Vorbeikommen an Robin Gosens gebe, wurde Halstenberg gefragt, und der 29 Jahre alte Leipziger äußerte sich so aufrichtig wie wahrheitsgemäß skeptisch - weil Gosens "ein grandioser Spieler" sei, der beim 4:2 gegen Portugal gleich mal das ganze Spiel aufgemischt habe. Vorsichtshalber empfahl sich Halstenberg für einen Posten in der Innenverteidigung und gelobte gute Laune: "Solange das Team so erfolgreich ist, stelle ich mich gern hinten an."

Eine eherne Weisheit über Gewinner und Finalisten großer Länder-Turniere besagt, dass die Elf des ersten Spiels niemals die Elf des letzten Spiels ist. Das klingt nicht nur ausgezeichnet, sondern auch plausibel - mit Blick auf die körperliche Belastung und die je nach Gegner unterschiedlichen Anforderungen. Aber die tolle Formel ist höchstens noch halb so schlau, wenn man die Besetzungen sieht, mit denen die Teamchefs Franz Beckenbauer und Jogi Löw bei den gewonnenen Weltmeisterschaften 1990 und 2014 ihr Werk begonnen und vollendet haben.

Außer Uwe Bein standen beim Endspiel 1990 dieselben Männer zur Nationalhymne beieinander wie beim Auftaktspiel, und in Brasilien war das später kaum anders: Statt Mario Götze spielte in Rio de Janeiro Miroslav Klose. Christoph Kramer rückte umständehalber kurzfristig an Sami Khediras Stelle. In Wahrheit steht die Elf des bekanntermaßen extrem wichtigen ersten Spiels automatisch unter Stammelf-Verdacht.

Nach dem gefeierten Auftritt gegen Portugal könnte man nun meinen, dass Löw sowohl sein System wie seine Elf für den Ernstfall der EM schon parat hätte. Mancher Experte hielt es zunächst zwar entweder für einen Anfall von Faulheit oder für ein Exempel seiner berüchtigten Sturheit, dass Löw einfach dieselben Spieler aufstellte wie vier Tage zuvor. Doch das würde jetzt wohl keiner mehr behaupten. Stattdessen wird überlegt, wie man in dieses Gebilde den von einer Muskelblessur genesenen und allgemein als Stammkraft angesehenen Leon Goretzka ins Team einbaut.

Beim Vorrundenabschluss gegen Ungarn löst sich das Rätsel womöglich von selbst. Der DFB informierte am Montag über diverse spielbedingte Verletzungen, inklusive einer Meldung, die erst mal überall für eine Falschmeldung gehalten wurde. Dass der Einsatz des unverletzlichen Thomas Müller wegen dessen lädierten Knies (Kapsel) bedroht sein soll - kann das wirklich stimmen? Offenbar schon. Leon Goretzka erklärte zwar, dass er sich um Müller keine Sorgen mache ("so wie Thomas sich eben im Pool bewegt hat, glaube ich nicht, dass er nicht doch spielen kann"), er ließ aber auch ausdrücklich wissen, gern die Lücke zu füllen: Dort wo Müller in der Nationalelf spiele, habe auch er "schon öfter gespielt", das sei "grundsätzlich auch meine Position".

Wechsel wären im dritten Gruppenspiel eher logisch als eine Überraschung

Sollte Löw ein paar Wechsel im dritten Gruppenspiel planen, wäre das keine Überraschung. Es wäre logisch. Das hat natürlich auch mit dem Gegner zu tun, der andere Aufgaben stellt als Frankreich und Portugal, die betriebsinternen Gründe aber sind mindestens genauso relevant. Löw könnte wichtigen und angeschlagenen Spielern wie Mats Hummels und Ilkay Gündogan eine Pause geben, und dafür etwa dem tendenziell ungeduldigen Sané einen Platz verschaffen. Zumal Sané als Mittel gegen die erwartete Catenaccio-Taktik der Ungarn ohnehin von Nutzen sein könnte.

Im Laufe seiner 15-jährigen Turniererfahrung hat sich der Bundestrainer angewöhnt, außer dem nächsten Gegner auch die übernächste Aufgabe mitzucoachen. Bei der WM 2014 setzte er die angeschlagen angereisten Schweinsteiger und Khedira im Schichtbetrieb ein, um sie in der Schlussphase des Wettbewerbs wie gewünscht nebeneinander zu präsentieren. Diesmal war es vor allem Goretzka, der im Training an die Stammelf herangeführt wurde. Er könnte jetzt das Team komplettieren, das Löw für den Ernstfall im Kopf hat.

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