Süddeutsche Zeitung

Englands Niederlage im Finale:Tränen am Elfmeterpunkt

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Englands Trainer Gareth Southgate nominiert vor dem Elfmeterschießen im EM-Finale drei völlig falsche Schützen, die ihre Versuche alle vergeben. Das Land versinkt in Trauer.

Von Sven Haist, London

Wie sonst hätten Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka nach ihren verschossenen Elfmetern reagieren sollen, als sich im leidvollsten Moment ihrer Karrieren sofort umzudrehen und wegzusehen? Vermutlich konnten die Jungprofis gar nicht anders, als sich direkt vom Unglücksort abzuwenden, weil es zum Instinkt des Menschen gehört, eine Tragödie nicht mit eigenen Augen verfolgen zu wollen. Umso mehr, wenn diese Tragödie nicht bloß Rashford, Sancho und Saka persönlich in tiefe Trauer stürzte - sondern in diesem Fall ein gesamtes Land.

Noch am Strafstoßpunkt fing Saka nach dem finalen Fehlschuss zum 2:3 im Elfmeterschießen (1:1, 1:1, 0:1) im Endspiel um den Europameistertitel zu weinen an. Er versuchte, vorbei an den heranstürmenden Italienern, einige Schritte zur Mittellinie hinter sich zu bringen, in deren Nähe sich Rashford und Sancho ihre Trikots übers Gesicht gezogen hatten. Jeder kehrte dem Tor seinen Rücken zu. Bloß nicht mehr hinschauen zum Ort des Desasters.

Der Schock über die Missgeschicke traf Saka, 19 Jahre alt, vom FC Arsenal, Sancho, 21, und Rashford, 23, beide Manchester United, derart tief ins Herz, dass sie sich im Nationalstadion Wembley, der Kultstätte des Inselfußballs, vor Scham am liebsten in Luft aufgelöst hätten. Vorbei an Mitspielern und Betreuern lief Rashford einsam in die Kabine, lediglich mit reichlich Zuspruch schaffte es Ersatzmann Conor Coady, die gute Seele der Mannschaft, seinen Kollegen wieder auf den Platz zu holen.

Von der letzten Reihe aus verfolgte Rashford die Pokalübergabe an die Italiener, kaum erfassbar für die Fernsehkameras, ebenso wenig wie der vor ihm auf einer Getränkekiste kauernde Saka. Wie die meisten ihrer Kollegen hatten sie sich zuvor eilig ihrer umgehängten Silbermedaillen entledigt, die weniger als Auszeichnung aufgefasst wurden denn als Brandmal für die schmerzhafte Niederlage.

Kurz vor dem Ende der Verlängerung wechselt Southgate aus - und trifft fatale Entscheidungen

In rührender Anteilnahme gab sich die Mannschaft um Trainer Gareth Southgate große Mühe, ihre niedergeschlagenen Talente zu trösten. Minutenlang kümmerte sich Southgate um jeden seiner Fehlschützen. Wer außer ihm hätte diese furchtbaren Gefühle besser nachempfinden können, seit er als bis dahin letzter Engländer am selben Ort im EM-Halbfinale 1996 mit einem vergebenen Elfer gegen Deutschland den Pokaltraum zerstört hatte? Seitdem wurde Southgate vom sogenannten Mutterland des Fußballs für seinen Fauxpas mit Hohn und Spott gegängelt, selbst in diesem Sommer, bei diesem erfolgreich verlaufenen Turnier, ist er beinahe bei jeder Gelegenheit an seinen lebensbegleitenden Lapsus erinnert worden.

Schlimmer schien es für Southgate nicht mehr kommen zu können - bis er am Sonntagabend quasi noch mal einen Strafstoß derselben Kategorie vergab: Diesmal als Trainer, indem er drei vollkommen falsche Schützen fürs Elfmeterschießen nominierte.

Kurz vor Abpfiff der Verlängerung standen die bei dieser EM kaum eine Rolle spielenden Sancho (96 Einsatzminuten) und Rashford (82 Minuten) zu einem Doppelwechsel parat, den sich Southgate für den nahenden Shoot-out aufgespart hatte. In seiner viereinhalbjährigen Amtszeit hat er nichts so ausführlich üben lassen wie den Schuss aus elf Metern, da England in der Vergangenheit schon eine Reihe an wichtigen Elferschießen verloren hatte, genau gesagt: sechs von acht Anläufen bei großen Turnieren. Hinter Kapitän Harry Kane gehört Rashford mit verwandelten zwölf von 14 Elfmetern auf dem Papier zu den verlässlichsten Schützen, ebenso wie Sancho, der in den Vorjahren für Borussia Dortmund alle drei Strafstöße ins Tor gesetzt hat.

Nur: Lässt sich ein EM-Endspiel wirklich am Reißbrett akribisch planen? Nach der reinen Rechenlehre, ungeachtet der vorigen Turnierleistungen, des Alters und der Spielsituation, in der Rashford und Sancho als Reservisten die größtmögliche Verantwortung auferlegt bekamen? Es wirkte, als würde Southgate vor lauter Elfmetern den Fußball nicht mehr sehen. Dabei hätte er wissen müssen, dass sich der Fußball in solchen Situationen noch nie einer Statistik gebeugt hat.

Um nicht zu lange in einer ungewohnten Formation spielen zu müssen, zögerte Southgate seine Wechsel sogar noch bis zum letztmöglichen Zeitpunkt hinaus. Zu Beginn der 118. Minute hätten Rashford und Sancho ins Spiel kommen können, aber diese Option ließ Southgate verstreichen, wie auch die nächsten beiden Chancen innerhalb der folgenden Minute. Erst zu Beginn der 120. Minute griff er dann schicksalhaft ein, aus der Sorge, es würde sich danach keine Gelegenheit mehr bieten - dabei eignete sich diese Situation überhaupt gar nicht für einen Tausch, unmittelbar vor einem gegnerischen Eckball. Entsprechend verwundert reagierte Vizekapitän Jordan Henderson auf seine Auswechslung, ebenso Kyle Walker, die beiden sind mit jeweils 31 Jahren die routiniertesten Spieler im Kader. Sie zögerten zunächst, wussten nicht, wie sie sich jetzt verhalten sollten, weil sie wohl genau spürten, dass ihr Trainer einen fatalen Entschluss gefällt hatte. Aber wie sollten sie ihre Zweifel äußern gegenüber Southgate, dessen Ideen in allen bisherigen EM-Spielen wunderbar aufgegangen waren?

Saka, der fünfte Schütze, hatte zuvor keinen einzigen Elfer im Profifußball getreten

Fast eine Minute des Hin- und Herüberlegens verstrich, ehe Henderson und Walker doch den Platz verließen, um keine weitere Skepsis unter den Teamkollegen zu verbreiten und ihren Trainer nicht bloßzustellen. Mit Rashford und Sancho war England plötzlich so offensiv aufgestellt wie in keinem anderen vorherigen Spiel, Rashford musste sogar als Rechtsverteidiger aushelfen, kam auf einen Ballkontakt und einen Einwurf. Auch Sancho gelang es vor seinem Elfmeter nur in einer Szene, den Ball zu berühren. Obwohl England im Elferschießen anfangs im Vorteil war, scheiterten Rashford und Sancho als dritter und vierter Schütze. Selbst das wäre zu verkraften gewesen, wenn nicht Southgate als fünften Schützen auch noch den 19 Jahre und 309 Tage alten Saka, viertjüngster Spieler eines EM-Endspiels, nominiert hätte.

Dieser Saka hatte zuvor keinen einzigen Elfer im Profifußball geschossen - vergleichbar mit Southgate, der 1996 gleichfalls ohne jede Erfahrung angetreten war. Mit rechts zielte Southgate ins linke Eck, nun Saka mit links ins rechte Eck, aber der Ball ging erneut nicht ins Tor - und wieder wurde England vom bereits verscheucht geglaubten Elferteufel erschreckt und aus dem Titeltraum geweckt. Den Augenzeugen im Wembley stockte der Atem.

Am Montag ist in fast allen englischen Tageszeitungen die herzliche Umarmung zwischen Saka und Southgate auf der ersten Seite zu sehen, die sich kaum anders deuten lässt, als dass sich Southgate selbst in den Arm nimmt. Die Elferschützen seien "meine Entscheidung" gewesen, sagte Southgate, für die Spieler sei es "herzzerreißend" gewesen, aber sie treffe keine Schuld. Der weiter titellose Spielführer Kane gestand, dass das verlorene Finale "für den Rest unserer Karrieren" schmerzen werde. "Oh no! Nicht schon wieder", titelte der Mirror, für die Daily Mail stand fest, dass "die Qualen" weitergehen würden , die Schlagzeile der Times lautete: "Arrivederci! So grausam!"

Trotz der riesigen Enttäuschung sind die Inselmedien milde in ihrem Urteil. Der Stolz überwiegt über das Erreichen des ersten EM-Endspiels überhaupt. Dabei ging England durch einen feinen Treffer von Luke Shaw in der zweiten Minute in Führung. Aber wie schon beim WM-Aus im Halbfinale vor drei Jahren schlug das Team daraus kein Kapital. Statt die verblüfften Italiener frühzeitig zu besiegen, zog sich England zurück und verließ sich auf die eigene Abwehr. Nach dem zweiten italienischen Eckball glich Leonardo Bonucci aus (67.) - und die dritte Ecke ermöglichte Southgate seinen verhängnisvollen Doppelwechsel.

Nach dem Spiel lag der Wembley Way, der Zuweg zum Stadion, in Agonie. Immerhin verwischte der einsetzende Regen einige Spuren des Finaltags: den Müll, den Dreck und auch den Gestank. Aber die Erinnerung ans verlorene Elfmeterschießen konnte selbst der Regen nicht wegwaschen.

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