Süddeutsche Zeitung

Eiskunstlauf:Junge Hüpfer

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Weltweit überbieten sich gerade Eiskunst­läuferinnen, die in der Pubertät stecken, mit Rekordsprüngen. Nun scheint ihnen die Zukunft zu gehören - doch gewiss ist das nicht.

Von Barbara Klimke, München

Vor wenigen Tagen erst wurde die Drehzahl im Eiskunstlauf wieder bis ans Limit geschraubt. Da setzte Alexandra Trusowa, 14 Jahre alt, in Zagreb zu einem Vierfach-Lutz an. Es ist ein Sprung, für den die junge Russin ein Urheberrecht beanspruchen kann: Bis sie ihn im Oktober erstmals zeigte, hatten ihn nur Männer geschafft. Diesmal stürzte sie bei der Landung, rappelte sich hoch und hob in staunenswerter Unbeirrbarkeit gleich wieder ab, zu einem perfekten Vierfach-Toeloop, den sie mit einem dreifachen Toeloop kombinierte. Auch diese Kapriole hatte sie erst im Herbst zur Welturaufführung gebracht. Es folgte ein weiterer Sprung mit vier Umdrehungen. Und spätestens da durften sich die Zuschauer in Zagreb fühlen, als wären sie bei dieser Junioren-Weltmeisterschaft mitten ins Zukunftslabor des Eiskunstlaufs geraten.

Trusowa sorgt derzeit für den größten Innovationsschub auf Kufen. Aber mit ihren epochalen Hüpfern steht sie nicht allein. Ihre Kollegin Anna Schtscherbakowa, mit 14 bereits russische Meisterin, hat es ihr nachgemacht und den tückischen Vierfach-Lutz ebenfalls vollbracht. Die Japanerin Rika Kahira, 16, hält das Patent für die erste Kombination mit dem Dreifach-Axel: Der Sprung ist noch immer einen Rarität bei den Frauen, weil nach vorne abgehoben wird und er deshalb, genau genommen, dreieinhalb Rotationen in der Luft erfordert. In den USA hat sich unterdessen Alysa Liu, ein 13-jähriges Sprungwunder aus Oakland/Kalifornien, zur US-Meisterin gekürt. Derzeit scheint es so zu sein, als wachse eine ganze Generation von Eiskindern heran, die locker an den Arrivierten vorbeihopsen kann.

Olympiasiegerin Sagitowa ist nun sieben Zentimeter größer - und hat teils große Mühe

Schneller, höher, jünger: Da wäre es verständlich, wenn die rasante Entwicklung in dieser Sportart die zweimalige deutsche Meisterin Nicole Schott vor den in der kommenden Woche beginnenden Weltmeisterschaften in Panik versetzen würde. Zumal sich Nicole Schott mit ihren 22 Jahren im Vergleich zu Trusowa & Co. manchmal "fast so alt wie deren Mutter" fühlt. Aber sie hat sich angewöhnt, die Dinge unaufgeregt zu betrachten. "Sie sind ja noch so jung", sagt sie. Wenn sie im Stützpunkt Oberstdorf die Nachricht erreicht, dass wieder irgendwo eine Juniorin einen Vierfachsprung unfallfrei aufs Eis genagelt hat, dann lautet ihre erste Reaktion mittlerweile: "Abwarten, ob sie es überhaupt zu den Senioren schafft." So ein neuer Sprung muss sich schließlich, wie jede Innovationstechnik, die in Serie geht, im Alltag bewähren. Und zum Alltag einer Eisläuferin gehört, dass sie älter wird.

Bei den Weltmeisterschaften in Saitama in Japan muss Nicole Schott die kleinen Rivalinnen mit der großen Sprungkraft ohnehin nicht fürchten. Weder die zweimalige Junioren-Weltmeisterin Trusowa noch Schtscherbakowa sind startberechtigt: Sie haben schlicht das Mindestalter von 15 Jahren noch nicht erreicht. Im Falle der US-Meisterin Liu ist die Lage übrigens noch kurioser: Die tollkühne Springerin ist so jung, dass der Weltverband ISU sie noch nicht einmal bei einer Junioren-WM antreten lässt. Russland indes ist reich gesegnet mit Kufentalenten aus seinen Eislaufschulen und hat deshalb keine Mühe, ein hoch dekoriertes Veteranen-Trio nach zur WM Japan zu entsenden: Sofia Samodurowa, 16, aktuelle Europameisterin; Jewgenija Medwedjewa, 19, Weltmeisterin 2016 und 2017; sowie Alina Sagitowa, 16, die bei den Olympischen Winterspielen 2018 in Südkorea Gold gewann.

Am Beispiel von Alina Sagitowa lassen sich Anhaltspunkte für die These finden, dass beim Epochenwechsel auf dem spiegelglatten Untergrund tatsächlich manches ins Schlittern kommt. Sagitowa galt vor Jahresfrist in Pyeongchang noch als die Zukunft ihres Sports: perfekt ausgebildet, unbeirrbar, sprungstark. Nun ist sie ein Jahr älter, mindestens sieben Zentimeter länger und bei den russischen Meisterschaften nach ungewohnten Stürzen nur Fünfte gewesen. Die Ausführung der Elemente erschwere sich, wenn sich die Körperproportionen verändern, erläutert Nicole Schott, die das auch durchmachte: "Es ist leichter zu springen, wenn man 1,30 Meter groß ist und noch nicht in der Pubertät war." Im Grunde handele es sich um "völlig andere Gewichtsklassen - fast wie beim Boxen". Junge Mädchen, das bestätigen Biomechaniker, haben einen Vorteil, wenn sie zum Beispiel lernen, viermal bei einem Toeloop um die eigenen Achse zu spindeln: Mit kleiner Masse und geringem Trägheitsmoment kann ein Körper schneller drehen. Das erklärt, warum in diesem komplizierten Sport manchmal die Jüngsten die Älteren übertreffen - zumindest bei technischen Elementen.

Auch Nicole Schott feilt ständig an Sprungverbesserungen. Allerdings wurde sie von einer Waden- und Knieverletzung im Sommer zurückgeworfen, so dass die Wettkampfsaison für sie mit Verspätung erst im Dezember begann. Die Blessur zog sie sich bei einem Trainingssturz zu, als sie den schwierigen Dreifach-Axel probierte, der noch nicht zu ihrem Repertoire gehört. Trotzdem fühlt sie sich nach dem Unfall eher beflügelt als demoralisiert. "Ich glaube, dass ich ihn schaffen könnte", sagte sie: "Der war schon richtig gut."

Doch eine Kür sei "nicht nur das Gespringe"; es heiße schließlich "Kunstlauf", da drehe es sich ums gesamte Programm. Zum Vorbild wählt sie erwachsene Läuferinnen, Frauen wie Carolina Kostner, 32, ehemals Weltmeisterin und fünfmalige Europameisterin aus Italien, die ebenfalls in Oberstdorf bei Michael Huth trainiert, oder Kaetlyn Osborne aus Kanada, 23, Titelverteidigerin bei der WM. Nie, sagt Nicole Schott, habe sie ein "One-Hit-Wonder" auf dem Eis sein wollen: "Es gibt viele Mädchen, die kommen für eine Saison, und dann sieht man sie nicht mehr." Gut möglich, sagt sie, dass sie selbst nie zur Nummer eins aufsteige: "Aber mein Ziel ist es, über Jahre dabei zu sein, einen Namen aufzubauen, und das mit Spaß und Leidenschaft zu machen." Klingt nach einer guten Alternative zum Zukunftslabor.

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Quelle:
SZ vom 16.03.2019
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