Süddeutsche Zeitung

Mats Hummels:Die Schuld des Schienbeins

Lesezeit: 2 min

Mats Hummels ist nach seinem Eigentor gegen Frankreich angemessen zerknirscht - mit der Exegese nationaler Gegentore kennt er sich aus.

Von Christof Kneer, München

Die Nachbetrachtung eines Fußballspiels funktioniert nach einem feststehenden Muster: Erzielt eine Mannschaft ein Tor, werden dem Torschützen Lob, Anerkennung und Hochachtung zuteil, auch der Vorbereiter bekommt einen Schulterklopfer sowie eine gute Note im kicker. Am anderen Ende des Spielfeldes ist es so: Im Falle eines Gegentores ist entweder der Torhüter haftbar zu machen oder - bei erwiesener Machtlosigkeit - zumindest der Innenverteidiger vor ihm. Gemäß dieser seit Jahrhunderten bewährten Logik war das Auftaktspiel der DFB-Elf also zügig interpretiert: Mats Hummels war schuld.

Hummels, 32, hat bei seinem Turnier-Comeback ein Tor erzielt, für das er weder Lob und Anerkennung noch einen Schulterklopfer kassierte. Mit dem Schienbein lenkte er den Ball ins eigene Netz, und die angemessene Zerknirschung wies er umgehend in dem entsprechenden Gesichtsausdruck sowie später in der Nacht in den sozialen Medien nach. "Die Niederlage schmerzt uns sehr und mich besonders, weil mein Eigentor das Spiel am Ende entschieden hat", teilte er via Instagram mit. Das stimmte natürlich: Das Tor hat das Spiel entschieden. Aber schuld im Sinne von "Schuld" war Hummels eher nicht.

Mit der Exegese nationaler Gegentore kennt Hummels sich aus, er war vor neun Jahren auch dabei. Damals, im berüchtigten EM-Halbfinale gegen Italien im Sommer 2012, wurde die Schuld bei Holger Badstuber abgeladen, weil der das Kopfballduell gegen Mario Balotelli verlor, aber Badstuber war damals nur der Letzte in einer langen Fehlerkette, die aus dem Mittelfeld von Mesut Özil über Jérome Boateng und - ja - Mats Hummels bis ganz nach hinten reichte. Und wer sich nun bei der behördlichen Nachverfolgung des artverwandten Hummels-Eigentores auch nur ein bisschen Mühe gab, der erkannte schnell, dass auch Hummels allenfalls der letzte in einer Fehlerkette war.

"Der Ball kam scharf nach innen, für Mats war es schwierig zu klären", sagte Bundestrainer Joachim Löw, "da kann man ihm keinen Vorwurf machen." Was etwas ungelenk aussah, wäre in der Tat nie geschehen, hätte die DFB-Elf zuvor bei einem französischen Einwurf vorschriftsmäßig Widerstand geleistet.

So aber gelangte der Ball ungehindert dahin, wo er sich an diesem Abend am wohlsten fühlte, zum formidablen Paul Pogba, der eine wunderbare Außenristflanke versenden durfte, ohne dass ihn die umstehenden Toni Kroos, Antonio Rüdiger oder Ilkay Gündogan gestört hätten. Und dass die Flanke ungebremst zum Franzosen Lucas Hernandez durchkam, lag auch an Joshua Kimmich, der seinen inneren Protest gegen die Position auf der Außenbahn durch ein etwas schiefes Stellungsspiel illuminierte.

Das Eigentor und eine spektakuläre, grenzlegitime Grätsche gegen den enteilten Kylian Mbappé überdeckten den insgesamt ordentlichen Auftritt von Mats Hummels. Wie der Co-Comebacker Thomas Müller konnte er im etwas undefinierten DFB-Spiel nicht so prägend sein, dass seine Rückkehr zwingend nötig wirkte. Aber sie wirkte auch keinesfalls überflüssig, dafür strahlte er wie Müller viel zu viel aus. Der wahre Wert dieses Doppel-Comebacks dürfte sich nun im entscheidenden Spiel gegen Portugal erweisen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5324376
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.