Süddeutsche Zeitung

Darmstadt:Comeback aus der Vorhölle

Lesezeit: 3 min

Sandro Wagner sichert 98 den Klassenerhalt - und provoziert.

Von Javier Cáceres, Berlin

Runter in die Unterwelt führen dreizehn Stufen. Sandro Wagner weiß das nun ganz genau. Im Berliner Olympiastadion trennen diese dreizehn Stufen das ebenerdige Spielfeld von jenem weiträumigen Flur, durch den die Spieler auf ihrem Weg zurück in die Kabine müssen. Und dort litt Wagner Qualen.

In der 83. Minute hatte er das 2:1 für Darmstadt 98 erzielt, und sicher schien zu diesem Zeitpunkt schon zu sein, dass der Aufsteiger damit zumindest einen Riesenschritt in Richtung Klassenerhalt getan hatte. Binnen vier Minuten sah Wagner zwei gelbe Karten: Platzverweis. Er verwirkte so das Recht, wenigstens am Spielfeldrand zu stehen, musste runter in die Vorhölle und sah dem hektischen Finale ohne direkte Sicht auf den Rasen zu - auf einem Bildschirm. Doch jeder Jubel, jeder Aufschrei von den Rängen wurde zur Qual, zum Rätsel: "Das Bild ist zeitverzögert! Acht Sekunden!", verzweifelte Wagner. Nach und nach gesellten sich Journalisten hinzu, bewaffnet mit Handys und Tablets, auf denen die Spielstände von den anderen Plätzen (Wagner: "Dortmund verliert gegen die Eintracht? Das gibt's doch gar nicht!") und die Blitztabelle übermittelt wurden.

"Ihr seid durch!", rechnete jemand vor, als Darmstadts 2:1-Sieg in der Hauptstadt besiegelt war und Wagners Tor das Zertifikat "entscheidend" erhalten hatte. Darmstadt, der rustikale Überraschungs-Aufsteiger, darf eine weitere Saison erstklassig mitkicken. Wagners Verwirrung aber war damit noch lange nicht vorbei: Durfte er zurück auf das Spielfeld? Die dreizehn Stufen wieder hoch, um mit den anderen zu feiern? "Oder krieg' ich dann noch mal Rot?" Egal: "Bin ja eh gesperrt fürs letzte Spiel gegen Mönchengladbach."

Dass Wagner in der Vorhölle landete, hatte viel mit seiner kurvenreichen Karriere zu tun. Die erste gelbe Karte sah er unmittelbar nach seinem Tor, bei dem er einen Pass von Marcel Heller über die Linie gedrückt hatte, nach einem kurzen, heftigen von Wagners Willen geprägten Zweikampf mit einem Verteidiger. Dann folgte Wagners folgenreiche Vergangenheitsbewältigung: Er sprang über die Werbebande und lief auf die Ostkurve zu, wo die treuesten Hertha-Fans stehen - vor seiner Zeit in Darmstadt hatte er drei Jahre lang erfolglos in Berlin gespielt. Dort also, auf der blauen Laufbahn, baute er sich auf und fuchtelte mit den Armen: Er zeigte gen Himmel, er schlug sich auf die Brust, alle rätselten: War das eine Provokation? Oder doch eine Entschuldigung? Dafür, dass er mit seinem Tor, wie sich nach Spielende herausstellte, die Hertha von Platz vier und damit aus der Champions League bugsiert hatte? Die Kurve keifte, Fans in Hertha-Blau drängten wütend an die Abgrenzung, schleuderten Bierbecher. Der Schiedsrichter erkannte ein ahndungswürdiges Szenario und zückte Gelb. Die zweite Gelbe folgte wegen eines Fouls. Gellende Pfiffe begleiteten Wagner hinab in die Unterwelt.

Wagner war in Berlin nie das geworden, was er als U21-Europameister von 2009 zu werden versprach. In 70 Spielen hatte er in drei Jahren für Hertha nur sieben Treffer erzielt, eine lausige Quote für einen Zentralstürmer. Dann schied er im Sommer 2015 im Unfrieden, nachdem er zusammen mit Peter Niemeyer, der jetzt ebenfalls in Berlin den Klassenerhalt sichern half, zum Training jenseits der ersten Hertha-Mannschaft verdonnert worden war. Die unmissverständliche Botschaft: Sucht euch einen anderen Klub!

Am Samstag nun erzielte ausgerechnet Wagner jenen Treffer, der - nach den Toren von Vladimir Darida zum 1:0 (15.) und Jérôme Gondorf zum 1:1 (20.) - Herthas Champions-League-Traum platzen ließ. Und der "den Darmstädtern noch eine Saison in der Bundesliga geschenkt hat", wie Niemeyer feststellte. Oder "das achte Weltwunder", wie Marcel Heller meinte.

"Mir fehlen die Worte", sagte Wagner, während sich seine Augen mit Tränen füllten. Auch, weil ihn einige Hertha-Ultras bis fast in die Kabine verfolgt hatten. Erst der Ordnungsdienst konnte sie bremsen.

Wohin er geht? Nach England? Vielleicht zurück zum FC Bayern?

"Sag' denen, dass ich nur die da oben gemeint habe, die mich für einen Blinden gehalten haben!", raunte Wagner im Kabinengang zu einem Hertha-Fanbetreuer. "14 Tore für einen Aufsteiger sind nicht so schlecht für einen Blinden."

Wagner hatte bereits als Gescheiterter gegolten. Er spielte im FC Bayern-Nachwuchs, galt als begabt, aber auch als allzu sehr von sich selbst überzeugt. In Duisburg, Bremen, Kaiserslautern, Berlin hatte er sich zu behaupten versucht, überall fiel er durch. Nun aber wisse er genau, wem er es verdanke, sein Schicksal gebeugt zu haben: Darmstadt, den Kollegen, Trainer Dirk Schuster. Dennoch wird er wohl weiterziehen, erklärte Wagner: "Vielleicht war das hier mein letztes Spiel."

Mit 14 Toren, acht per Kopf, hat er sich auch im Ausland einen Namen gemacht, die englische Premier League ist ein Ziel, von einer zweistelligen Millionen-Ablöse ist die Rede. Doch es heißt auch, dass der Verein, der den gebürtigen Münchner ausbildete, zumindest erwäge, ihn wieder zu verpflichten, als "Back-up"-Stürmer, für Müller, für Lewandowski. Es ist die Spekulation über eine Rückkehr, über die Rückkehr ins Paradies. Er käme direkt von der Flucht aus der Hölle.

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SZ vom 09.05.2016
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