Süddeutsche Zeitung

4:3-Wahnsinn in Anfield:Die verlorene Aufholjagd

Lesezeit: 3 min

Von Sven Haist

Niemand traute den eigenen Augen, auf den ersten Blick glich das Gesehene ja einer Illusion. Man musste sich schon mehrmals vergewissern, um wirklich glauben zu können, dass Jesse Marsch, 45, gerade im feinen Anzug triumphierend die Seitenlinie an der Anfield Road entlang rannte - und sich an der Eckfahne auf den norwegischen Torschützen Erling Haaland warf. War diese Art des Torjubels nicht einmal exklusiv dem Erfinder Jürgen Klopp vorbehalten gewesen? Mit jeder angeschauten Wiederholung manifestierte sich dann jedoch der Eindruck, der amerikanische Trainer des FC Salzburg, der in der Vorsaison bei Ralf Rangnick in Leipzig assistierte, habe tatsächlich zur Feier des Ausgleichstreffers den Klopp gemacht.

Um die Gepflogenheiten in der unverwechselbaren Spielstätte Anfield haben sich die Salzburger bei ihrem Premierenduell mit Liverpool nicht im Geringsten gekümmert, weder der Trainer Marsch noch seine Spieler, und vermutlich war das der Grund, warum sie am Mittwochabend zum Trendthema in der Champions League wurden. Innerhalb von 21 Minuten wandelte der österreichische Serienmeister mithilfe eines Formationswechsels ein 0:3 in ein 3:3 um, in Summe macht das in 13 Pflichtspielen nun 58 Tore. Bis dahin gelangen in der Königsklasse bloß dem FC Barcelona, Real Madrid und dem FC Chelsea drei Treffer in Liverpool. Dieser Husarenstreich durch Tore von Hee-chan Hwang (39.), Takumi Minamino (56.) und Haaland (60.) glich für Salzburg dem zweiten Sieg im Wettbewerb nach dem imposanten Auftakterfolg über KRC Genk - und genau auf diese Weise bejubelten sie sich auch. Mit dem Makel, dass die Partie anschließend eine halbe Stunde fortgesetzt wurde und schließlich verloren ging.

Neun Minuten nach dem Ausgleich wies Doppeltorschütze Mohamed Salah mit seinem Siegtreffer für Liverpool den Emporkömmling zurecht. "Wir haben ihnen die Tür geöffnet und sie sind durchgerannt", sagte Klopp: "Das war ein Schlag ins Gesicht und eine wichtige Lektion für uns." Durch das 4:3 hat der Vorjahressieger der Königsklasse die Niederlage im ersten Spiel wettgemacht. Mit den punktgleichen Salzburgern liegt Liverpool jetzt um einen Zähler hinter Tabellenführer SSC Neapel. In den beiden anstehenden Duellen mit den Italienern wird sich für Salzburg entscheiden, ob der Sprung ins Achtelfinale gelingen kann. Mitunter deswegen schien sich niemand die Laune verderben zu lassen vom Spielausgang. "Die zweite Halbzeit war ein Glücksgefühl. Wir sind stolz auf diese Mannschaft und diese Leistung", sagte Marsch. Minutenlang drückten die mitgereisten Fans nach Abpfiff vor Trainer und Mannschaft ihren Respekt aus. Für den Verein ist es ja nach dem Debüt vor 25 Jahren, als der Klub noch SV Austria Salzburg hieß, gerade mal die zweite Teilnahme am prestigeträchtigsten europäischen Wettbewerb.

Der turbulente und nicht zu prognostizierende Spielverlauf hielt die passende Laudatio auf das 100. Europapokalspiel an der Anfield Road. Klopp fand: "Das war weit weg von einem perfekten Spiel, aber dafür eine typische Liverpool-Begegnung, sehr aufregend und niemals zu Ende vor Abpfiff." Das Jubiläum machte jedem beim punktverlustfreien Tabellenführer der Premier League klar: Heute geht es um die Ehre! Zumal die Reds im Europapokal seit Oktober 2014 jetzt in 23 Spielen zuhause ungeschlagen sind. Nach Belieben dominierten sie die Anfangsphase, als Bilanz standen drei Tore in den ersten 36 Minuten zu Buche, erzielt von Sadio Mané (9.), Andrew Robertson (25.) und Salah (36.). Aufgrund seiner Zeit in Salzburg, wo Mané mit 45 Toren in 87 Einsätzen den Durchbruch schaffte im Profifußball, verzichtete er nach seinem Treffer auf ausführliche Feierlichkeiten.

Statt die Begegnung anständig über die Bühne zu bringen, kickte Liverpool so vor sich hin - und fiel prompt auf eine Taktikfalle des Gegners rein. Obwohl Salzburg die Mitte stärkte mit vier zentral angeordneten Spielern, leiteten die Reds ihre Angriffe trotzdem weiter eifrig übers Innere des Spielfelds ein. Die entsprechenden Ballverluste brachten die schlecht abgesicherte Verteidigung durcheinander. "Ich dachte nach dem Spiel, dass ich ärgerlich bin", sagte Klopp, "aber jetzt realisiere ich, dass ich es doch nicht bin." Das mag vorwiegend damit zusammenhängen, dass sich die Salzburger - im speziellen ihr Trainer Jesse Marsch - zu früh freuten.

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