Süddeutsche Zeitung

Belgien bei der Fußball-WM:Eine der besten Szenen dieser WM

Lesezeit: 3 min

Von Sven Haist, Rostow am Don

Natürlich wusste Japan um die belgische Konterstärke, aber ein ganzes Spiel lang hat die Nationalelf des im April neu installierten Trainers Akira Nishino die gefürchteten Schnellangriffe kontrollieren können. Meist hatten die Japaner mit Kevin De Bruyne den begabtesten Passgeber der Belgier umstellt. Wenn das mal nicht gelang, behalfen sie sich eines Fouls zur Unterbrechung des Gegenstoßes.

Und so war es nachvollziehbar, dass die Asiaten in der finalen Minute der Nachspielzeit mit neun Spielern an den belgischen Strafraum vorrückten, um nach einem Eckball die Chance zu haben, das entscheidende Tor zu schießen. Das Tor, das Japan in seiner Fußballhistorie bisher immer verwehrt geblieben war, das Tor zum erstmaligen Erreichen des Viertelfinals bei einer Weltmeisterschaft. Allerdings kam halt kein Japaner mit dem Kopf an die Flanke heran, sondern nach 93:30 Minuten die Hände von Thibaut Courtois. Mit einem Abwurf leitete der belgische Torhüter unverzüglich eine Kombination ein, dessen Verlauf niemand aus Japan im Leben mehr sehen, hören oder lesen möchte.

In zwölf Sekunden fuhren die Belgier die Mutter aller Konter vom einen zum anderen Strafraum. Auf den Abwurf folgten drei Ballkontakte durch De Bruyne, sein Zuspiel nach rechts auf Flügelläufer Thomas Meunier, der im Strafraum direkt querlegte zum Torschützen Nacer Chadli. Die finale Sequenz im Spiel lief derart überfallartig und überraschend ab, dass die Japaner, die eigentlich stets die Haltung bewahren, wie vom Blitz getroffen zu Boden fielen. "Es fühlt sich an wie eine Tragödie", sagte Trainer Nishino.

Lukaku führt Japans Defensive in die Irre

Den Weg für Belgien ins Viertelfinale hatte Romelu Lukaku freigemacht. Obwohl der Mittelstürmer beim Siegtor den Ball gar nicht berührte, galt ihm der größte Verdienst an der Entstehung des Treffers. In einer der besten Szenen dieser WM lockte Lukaku mit einem Laufweg in die Mitte den japanischen Linksverteidiger Yuto Nagatomo aus seiner Position. Dadurch ergab sich erst der entscheidende Freiraum für den nachrückenden Meunier. Seine geistesgegenwertige Spielauffassung demonstrierte Lukaku anschließend im Strafraum, als er den für ihn gedachten Pass durch die Beine zu Chadli laufen ließ - und mit dieser Täuschung die japanische Defensive in die Irre führte.

Mit einem dramatischen 3:2 über Japan erspielte sich Belgien ein Treffen mit Rekordweltmeister Brasilien am Freitag im Viertelfinale in Kasan. Im Erfolgsfall würden die Roten Teufel zum zweiten Mal nach der WM 1986 in Mexiko das Halbfinale erreichen und das ewige Versprechen einhalten, eine sogenannte goldene Generation ihres Heimatlandes zu sein. Die Verabredung mit Brasilien dürfte Belgien gelegen kommen, weil die Mannschaft aufgrund ihrer Konterspezialität gerne aus der Perspektive des Außenseiters agiert. "Wir sind ein kleines Land, da ist es schwer, ein gutes Team hervorzubringen. Jetzt haben wir eins und wollen den Titel gewinnen", sagte De Bruyne.

Dabei schien sich Belgien nach zwei Gegentoren durch Genki Haraguchi und Takashi Inui zu Beginn der zweiten Halbzeit (48./52.) schon auf dem Heimweg zu befinden. Der Arbeitseifer der japanischen Spieler, sich gegenseitig auf dem Platz in jeder Situation beizustehen, frustrierte die Ansammlung an belgischen Einzelkönnern. In der Defensive fanden die tendenziell langsamen und statischen Routiniers keine Lösung für die Umtriebigkeit der Asiaten.

Zwischenzeitlich waren die Belgier dem Aufgeben nahe, ehe der Nationaltrainer Roberto Martínez der bevorzugten flachen Spielweise ein Ende setzte. Mit der Einwechslung des fast zwei Meter großen Marouane Fellaini signalisierte der Spanier Martínez der eigenen Mannschaft, den Ball fortan hoch vor das gegnerische Tor zu spielen. Die physische Überlegenheit beim Kopfball blieb die einzige Möglichkeit, den klug und strukturiert verteidigenden Japanern noch beizukommen. Zwei Flanken verwerteten Jan Vertonghen und Fellaini ebenfalls innerhalb kurzer Zeit (69./74.) mit dem Kopf zum Ausgleich, der Anschlusstreffer durch Vertonghen aus 18,60 Metern dürfte dabei in seiner Besonderheit das Turnier überdauern. Seit Datenerfassung bei der WM 1966 hat nie zuvor ein Spieler aus größerer Distanz ein Kopfballtor erzielt.

Als erstem Team gelang Belgien in einem Ausscheidungsspiel nach Portugals 5:3 über Nordkorea bei der WM 1966 in England, während der regulären Spielzeit aus einem Zwei-Tore-Rückstand einen Sieg zu erzielen. "Das war ein Charaktertest für uns. Wir haben unglaubliche Mentalität bewiesen", sagte Martínez, "das Spiel kurz vor Schluss noch zu gewinnen, sagt alles über diese Mannschaft aus. Das ist ein Tag, um stolz zu sein." Durch seine Maßnahme, die späteren Torschützen Fellaini und Chadli in die Partie zu bringen, ist Martínez der erste WM-Trainer in einer Knock-out-Runde, dem diese Glanznummer glückte.

Nach Abpfiff riskierte ein Fan den Sprung über die Absperrung aufs Spielfeld, um ein Trikot der Belgier zu ergattern. Im Spielerpulk angekommen, musste er allerdings feststellen, dass die Profis ihre Shirts schon abgegeben hatten. Um sich gegen Japan durchzusetzen, haben die belgischen Nationalspieler am Montagabend buchstäblich ihr letztes Hemd geben müssen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4038290
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.