Süddeutsche Zeitung

Belgien bei der Fußball-EM:Mal Schwein, mal Stier, mal Willi

Lesezeit: 3 min

Alle rätseln über die Launen der Belgier: Gegen Ungarn muss diese Hochbegabten-Generation ihre Talente entfalten, sonst bekommt nicht nur Trainer Wilmots Probleme.

Von Ulrich Hartmann, Nizza

Nach dem ersten Spiel der Belgier bei dieser Europameisterschaft sagte der Trainer: "Das ist eine großartige Mannschaft, es ist eine Mannschaft mit Zukunft, sie kann hier den Titel gewinnen." Belgien hatte 0:2 gegen Italien verloren, und der Trainer, der die Belgier da so lobte, war Antonio Conte. Der italienische Coach, der nach der EM den FC Chelsea übernimmt, vertrat diese Ansicht nicht nur aus tröstenden oder schmeichlerischen Gründen, sondern deshalb, weil die junge, schnelle, technisch starke und überdies trickreiche belgische Mannschaft ein Offensiv-Potenzial besitzt wie kaum eine zweite Nation bei diesem Turnier.

Nachdenklich macht die Belgier und die Branche jedoch, warum diese Mannschaft ihr Potenzial bisher kaum ausschöpft. Allenfalls beim 3:0 gegen Irland gelang ihr eine überzeugende Vorstellung. Im Achtelfinale gegen Ungarn am späten Sonntagabend in Toulouse muss Belgien nun liefern, wie man im Fußballerjargon neuerdings sagt. Sonst ist es um den Ruf dieses begabten Teams ebenso geschehen wie vermutlich um den Job des Nationaltrainers Marc Wilmots.

"Die Italiener haben uns taktisch deklassiert"

Die niederländische Ausgabe des Internetlexikons Wikipedia nennt für den früheren Schalker Fußballer Wilmots drei Spitznamen: "das Kampfschwein", "de Stier van Dongelberg" und "Willi". Ungefähr genauso wechselhaft hat sich der 47-Jährige gegenüber den schon fast provozierend skeptischen belgischen Medien während der launenreichen Vorrunde seiner Mannschaft gegeben - nach dem enttäuschenden 0:2 gegen Italien, dem begeisternden 3:0 gegen Irland und dem mauen 1:0 gegen Schweden. Mal war Wilmots empört, mal herablassend, mal kleinlaut - mal Schwein, mal Stier, mal Willi.

Wilmots gilt Skeptikern als taktisch defizitärer Trainer, der die Schnelligkeit seiner Spieler nicht mit adäquaten kreativen Spielzügen zu protegieren versteht. Das belgische Magazin Sport zitierte kürzlich einen nicht genannten Nationalfußballer mit den Worten: "Unser Spiel ist stereotyp, das weiß jeder seit Langem." Der Torwart Thibaut Courtois wollte nicht anonym bleiben, als er nach der Auftaktniederlage sagte: "Die Italiener haben uns taktisch deklassiert." Vielleicht hat diese Mannschaft schlichtweg das Problem, dass die effektive Umsetzung ihres Tempos mehr blindes Verständnis unter den Spielern erfordern würde.

Eden Hazard, 25, spielt beim FC Chelsea; Kevin De Bruyne, 24, bei Manchester City; Romelu Lukaku, 23, beim FC Everton; Yannick Carrasco, 22, bei Atlético Madrid; Divock Origi, 21, beim FC Liverpool. Sie sind jung, sie sind schnell, sie sind begnadete Fußballer, aber sie kennen mitunter die Laufwege ihrer Mitspieler schlecht.

Sie sind manchmal wie tollende Hundewelpen: ohne ersichtliches Konzept. Dieses müsste ihnen der Trainer in Form eines griffigen Matchplans mitgeben. Nach dem weitgehend unbefriedigenden, weil glücklichen 1:0-Sieg gegen Schweden sagte Wilmots über seine jungen Angreifer: "Sie müssen mehr nach hinten arbeiten und insgesamt mit mehr Tempo spielen." Solche Erkenntnisse schüren den Verdacht, dem Trainer fehle bisweilen die Handlungshoheit.

In ihren drei Gruppenspielen hatten die Belgier insgesamt 59 Torschüsse, genauso viele wie die deutsche Mannschaft. Nur Portugal (69) und England (65) erarbeiteten sich in der Vorrunde mehr. Außerdem hatten die Belgier die viertmeisten Eckbälle (25 - in der Statistik führt Portugal mit 30).

Belgien ist also eines der torgefährlichsten Teams dieser EM, doch in der Pass- und Ballbesitz-Statistik zeigt sich, dass sie ihre Torgefahr im Gegensatz zu Spanien, Deutschland und Portugal nicht durch dominante Ballzirkulation erzeugen, sondern eher durch schnelle Vorstöße nach Balleroberungen. Gerade mal 54 Prozent Ballbesitz hatten sie in den bisherigen 270 Minuten im Schnitt, und in der Teamstatistik erfolgreicher Pässe stehen sie im Vorrunden-Vergleich aller 24 Mannschaften nur auf Platz zehn.

Lukaku, mit 18 Treffern viertbester Torschütze der abgelaufenen Premier-League-Saison, hat zwei Tore geschossen. Hazard, "Fußballer des Jahres" in der Premier-League-Spielzeit 2014/15, hat zwei Tore vorbereitet. Carrasco ist mit einem offiziellen Sprinttempo von 32 km/h hinter dem Franzosen Kingsley Coman zweitschnellster Fußballer dieser EM, und Origi von Jürgen Klopps FC Liverpool gilt als eines der größten Offensivtalente Europas.

Doch all diese Potenziale verschmelzen zu selten. "Mit unserem Talent müssten wir mindestens unter die letzten Vier kommen", sagt der irokesenfrisierte Mittelfeldspieler Radja Nainggolan vom AS Rom. Diese Ansicht hat er mit dem externen Experten Antonio Conte gemein. Allerdings fehlt noch die Bestätigung.

Ein Hilfsangebot bekommen die Belgier, hinter Argentinien derzeit Weltranglistenzweiter, vom Schicksal. Die Turnierfavoriten Deutschland, Spanien, Italien, Frankreich oder England spielen alle in der anderen Hälfte des K. o.-Tableaus. Stärkste Gegner bis zum Finale wären Portugal (Weltranglisten-Achter), die Schweiz (15.) und Kroatien (27.). Doch auch die Ungarn (20.) fürchten die Belgier. "Die geben immer zweihundert Prozent", sagt Hazard: "Leichte Spiele wird es auch in unserer Tableauhälfte nicht geben."

"Wir haben gute Angreifer, aber wir müssen schneller spielen und mehr Tore schießen", fasst Wilmots die Defizite zusammen. Die jungen Stürmer stehen damit noch mehr unter Druck. Die Ehre des belgischen Fußballs steht auf dem Spiel. Und Wilmots' Zukunft. Misslingt die EM, könnte es passieren, dass der stolze Stier am Ende nur noch einer ist: der Willi.

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SZ vom 25.06.2016
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