Süddeutsche Zeitung

Bayer Leverkusen:Abkehr vom bedingungslosen Risikofußball

Lesezeit: 3 min

Nach einem Festival vergebener Riesenchancen des Gegners RB Leipzig ändert Bayers Trainer Bosz seine geliebte Spielweise - heraus kommt ein 1:1.

Von Ulrich Hartmann, Leverkusen

Von allen Verantwortlichen des ehrgeizig aufgestellten Bundesligisten RB Leipzig hatte am Samstag nur Geschäftsführer Oliver Mintzlaff so richtig Spaß im Stadion. Das lag daran, dass der 44-Jährige nicht in der Leverkusener BayArena saß, um seinen Fußballern beim Auslassen hochkarätiger Torchancen zuzusehen, sondern 4750 Kilometer südöstlich im Khalifa-Stadion in Doha, um die 5000-Meter-Läuferin Konstanze Klosterhalfen zu beobachten, wie sie Bronze bei der WM erlief. Mintzlaff, einst selbst aktiver Leichtathlet, hat Klosterhalfens Karriere maßgeblich mitgestaltet, er wollte dabei sein bei ihrem bislang größten Erfolg.

Nicht ganz so gut lief es bei den Leipziger Kickern, obwohl diese als Gäste von Bayer Leverkusen ebenfalls mit enormer Laufarbeit und einem guten Plan auftraten und diesen Plan ziemlich gut umsetzten - bis zu jenen Momenten, als es nur noch darum ging, den Ball ins Tor zu schießen.

Fünf Mal war das in der starken ersten Halbzeit von RB der Fall, aber die Angreifer Matheus Cunha, Timo Werner und Marcel Sabitzer verballerten alle Einschussmöglichkeiten. Die Leipziger führten Leverkusen mit ihrem Umschaltspiel 45 Minuten lang derart vor, dass bei Bayer-Trainer Peter Bosz schlimmste Erinnerungen an seine missratene Halbjahres-Ära in Dortmund aufkommen mussten. Sein Team ließ sich, wie damals der BVB, vom Gegner dramatisch auskontern, so dass Bosz in der Pause entschied, seine Mannschaft "so defensiv wie noch nie" agieren zu lassen. Viel tiefer und viel risikoloser ging Leverkusen zu Werke; die radikale Abkehr vom ursprünglich als alternativlos deklarierten aggressiven Tempofußball des Trainers Bosz wäre fast mit dem Heimsieg und der Tabellenführung belohnt worden.

Doch das 1:0 durch Kevin Volland in der 66. Minute glich der eingewechselte Leipziger Christopher Nkunku zwölf Minuten später artistisch zum verdienten 1:1 aus. Das glückliche Unentschieden täuschte nicht darüber hinweg, dass die Leverkusener ihren Bosz-Fußball gegen qualitativ bessere Teams zurzeit nicht durchsetzen können: 0:4 in Dortmund, 1:2 gegen Lok Moskau, 0:3 bei Juventus Turin - und nun ein Heimspiel gegen Leipzig, das zur Pause schon hätte verloren sein können. Erst die partielle Aufgabe relevanter Aspekte des Bosz-Systems retteten das Spiel. Dabei musste Bayer am Ende auf zwei verletzte Defensivkräfte verzichten: Der Chilene Charles Aranguiz, 30, erlitt einen Haarriss im rechten Mittelfuß sowie einen Muskelfaserriss im Oberschenkel; der Niederländer Daley Sinkgraven, 24, zog sich eine Muskel-Sehnenverletzung im Oberschenkel zu. Beide fallen mehrere Wochen aus.

Für den Mittelstürmer Volland scheint das alles kein Problem zu sein, er trifft, auch wenn er kaum Chancen hat. Im Kalenderjahr 2019 ist der 27-Jährige der beste deutsche Liga-Scorer mit zwölf Toren und 13 Vorlagen. Den Bundestrainer Löw beeindruckt das allerdings nicht. Auch an diesem Mittwoch beim Länderspiel gegen Argentinien wird Volland nicht mitwirken. Sein bislang letzter Auftritt im Nationaltrikot datiert vom 15. November 2016.

Dagegen ist der Leipziger Timo Werner bei Löw gesetzt. Er war mit sieben Toren in den ersten sechs Pflichtspielen herausragend in die Saison gestartet, doch mittlerweile hat er viermal nacheinander nicht getroffen. Sein 100. Bundesligaspiel für Leipzig am Samstag wäre ein guter Anlass gewesen, sein 56. Bundesliga-Tor für den Klub zu erzielen, aber so, wie man in den ersten Spielen den Eindruck hatte, jede Ballberührung von Werner münde unweigerlich in ein Tor, so hat man momentan das Gefühl, der Ball will von seinem Fuß aus partout nicht mehr ins Netz. "Leider sind uns diesmal die einfachen Tore nicht gelungen. Dann tut ein 1:1 am Ende weh", sagte sein Mitspieler Emil Forsberg; Diego Demme behauptete: "An einem anderen Tag hätten wir allein aus den Chancen in der ersten Halbzeit drei oder vier Tore gemacht."

Es wäre allerdings spannend geworden zu sehen, ob Leverkusens Trainer dann nicht schon früher die Notbremse gezogen hätte. Und es wird auch spannend zu sehen sein, wie die Leverkusener nach der DFB-Pause in Frankfurt und kurz danach bei Atletico Madrid auftreten: ob sie dort auch tiefer stehen und nicht um jeden Preis die schnellen steilen Pässe in die Lücken des gegnerischen Verbandes probieren?

Beobachter fragen sich, warum diese Bayer-Elf, die nach einer starken Rückrunde der Vorsaison nur den Angreifer Julian Brandt verloren hat, ihr mühsam einstudiertes Bosz-System momentan so gar nicht auf den Rasen bekommt. Dieses Problem hatte der niederländische Trainer in Dortmund im zweiten Halbjahr 2017 ebenfalls: Nach einem fabelhaften Start geriet der BVB in Turbulenzen, Bosz korrigierte den Risikofaktor massiv. In diese Phase ist er nach neun Monaten in Leverkusen nun auch geraten.

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Quelle:
SZ vom 07.10.2019
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