Süddeutsche Zeitung

5. September 2009:Die gemobbte Ministerin

Lesezeit: 6 min

Ist die Kritik an Ulla Schmidt im Zusammenhang mit der Dienstwagenaffäre berechtigt oder überzogenes "Moralmobbing"? SZ-Leser diskutieren.

Zum Kommentar von Gustav Seibt über Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und die Dienstwagenaffäre schreiben Leser:

"Dass das "geläufige moralische Mobbing" einer "Berlusconisierung" Deutschlands Vorschub leiste, ist schwer nachvollziehbar - insbesondere in einem Moment, in dem sich alle Welt, außerhalb Italiens, darüber wundert, wie sich der italienische Ministerpräsident trotz aller Skandale weiterhin im Amt hält.

Dies gelingt ihm, gemäß Seibt, weil es ihm gelungen sei, die Politik zu trivialisieren und zu "entpolitisieren", womit ein Raum geschaffen wurde, in dem das "persönliche materielle Motiv" nahezu unbehelligt regieren könne und sich mit moralischer Kritik "bestens leben" ließe.

Implizit behauptet Seibt also, dass das von Bild und Plasberg gegen Schmidt betriebene "Moralmobbing" in letzter Konsequenz zur Schaffung von Situationen führen könne, in der alle moralischen und etliche gesetzliche Regeln außer Kraft gesetzt scheinen, weil Moral ja nun mal auslegbar sei und keiner "unbelangbaren Gruppe von Meinungsmachern" überlassen werden dürfe.

Seibt verkennt jedoch, dass die Trivialisierung von Politik ein vor allem in der angelsächsischen Welt fortschreitender Trend ist, der zum Beispiel dazu führte, dass in Großbritannien Minister wegen ihrer Spesenabrechnungen und nicht wegen ihrer etwaigen desaströsen Politik zum Rücktritt gezwungen wurden.

Berlusconis Macht ist hingegen dadurch erklärbar, dass die von Seibt so gewünschte "heilsame Autonomie der politischen Sphäre" genauso wenig vor Stimmungsmache gefeit ist wie die Moral und sich auch große Politik trefflich an die "niedrigen Instinkte von Ahnungslosen" wenden kann."

Carsten Wollenweber Rom, Italien

Eine Mangel an politischer Klugheit

"Gustav Seibt macht es sich recht einfach, wenn er Ulla Schmidts Verhalten in ihrer Dienstwagenaffäre reduziert auf ihre "mangelnde Bereitschaft, sich den öffentlichen Reflexen anzupassen". In Wirklichkeit handelt es sich bei der Verteidigungslinie der Ministerin um die bekannte Taktik, stets nur das einzuräumen, was nicht mehr zu verbergen ist.

Der "Fall Ulla Schmidt" hat für die politisch interessierte Öffentlichkeit zwar mit moralischem Handeln von Politikern zu tun, aber auch mit politischer Klugheit, woran es Frau Schmidt hat vermissen lassen. Dies lediglich auf einen "Fehler" zu reduzieren, ist doch eine arge Verharmlosung."

Bodo Franzmann Ingelheim

Auch Politiker leiden unter Gier

"Schade, dass auch Seibt das Märchen weitererzählt, die Abgeordneten seien "eher lächerlich bezahlt", und Kritik an persönlichem Privilegienmissbrauch als "Dauerunterstellung des trivialsten Motivs" diskreditiert. Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise haben wir doch alle gerade gelernt, dass Gier tatsächlich ein treibendes Motiv vieler "Führungs"-kräfte in Wirtschaft und Banken war und ist - wieso um alles in der Welt sollte das denn bei Politikern anders sein?

Benjamin Franklin jedenfalls, der "Berlusconisierung" im Jahr 1754 sicherlich ganz unverdächtig, fordert in Bezug auf die zu wählenden Abgeordneten eines Kongresses der vereinigten nordamerikanischen Kolonien, man solle ihnen nicht zu hohe Entschädigungen zahlen, es sei denn, man wolle "ungeeignete Personen verleiten, um des materiellen Vorteils willen um solche Positionen zu intrigieren"."

Matthias Popp Hemmingen

Zeitgeist der Kulturrevolution

"Forderungen nach "Fingerspitzengefühl" hält Seibt für "Moralmobbing", das zu "gespenstischen Folgerungen" führe. Damit erweist er sich als vom Zeitgeist der Kulturrevolution von 1968 geprägt. Seitdem gelten Wertmaßstäbe wie Moral, Sitte, Tradition, Anstand und Stil als verpönt, gar lächerlich.

Wie beurteilt Seibt denn die Boni-Gier maßloser Vorstandsmitglieder der Wirtschaft, die sich doch auch innerhalb geltender Gesetze bewegt haben? In letzter Konsequenz brauchte nach Seibts Maßstäben wohl auch nie ein Minister für schwerste Fehler in seinem Ressort zurückzutreten, soweit ihm nicht persönlich erhebliche Rechtsverletzungen nachgewiesen werden!"

Dr. Wilhelm Knittel Grünwald

Versteckte Gründe für die Hatz

"Endlich ein Artikel, der die unsägliche Hatz auf Ulla Schmidt zutreffend analysiert. Völlig zu recht weist Gustav Seibt auf die Folgen hin, wenn von Politikern jenseits der Gesetzestreue zusätzlich eine besondere Moralität verlangt wird.

Von der Süddeutschen Zeitung wäre dann auch zu erwarten gewesen, dass sie der Frage nachgeht, warum gerade die Gesundheitsministerin, die ja den größten Einzeletat verwaltet, so lustvoll angegriffen wird: Ob es wohl letztlich um die Gesundheitspolitik geht und die Befürworter der höheren Moralität zugleich mehr Privatisierung in diesem Bereich wollen?"

Michael Seide Hamburg

Rührendes Verständnis

"Zunächst war ich gerührt über das Verständnis, das der Autor für den aufopferungsvollen "24-Stunden-Einsatz" der Politiker zeigt, für den sie auch noch mit einem "eher lächerlichen Gehalt" entlohnt werden. Für dieses üble Los "wird ihnen auch noch eine schier grenzenlos Bereitschaft abverlangt, sich öffentlich dumm anreden und demütigen zu lassen".

Nach meinem Eindruck werden aber lange nicht alle Politiker öffentlich so behandelt. Mir fallen da stellvertretend Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und eine Reihe von Ministerpräsidenten der Länder ein. Vielleicht könnte bei all dem Übel eine Politiker-Gewerkschaft helfen.

Was den Dienstwagengebrauch der Ministerin Schmidt betrifft, so tut man einfach bestimmte Dinge nicht, auch wenn sie rechtlich, also nach der Dienstwagenregelung zulässig sein sollten, nachträglich als privat deklariert und der geldwerte Vorteil versteuert wird. Die echten Kosten für den Wagentransfer über 5000 Kilometer einschließlich Fahrergehalt hat die Ministerin offenbar nicht übernommen.

Diesen Aufwand darf man nicht betreiben für angeblich notwendige 72 Dienstkilometer am Urlaubsort. Das kann man nicht mit Mangel an Bodenhaftung oder Fingerspitzengefühle erklären. Ein solches Verhalten ist unverfroren oder total dumm und naiv. Macht Frau Schmidt so etwa auch Gesundheitspolitik?"

Dieter Brandes Hamburg

"Gustav Seibt holt weit aus, um Ulla Schmidt und die deutsche Politik zu verteidigen. Mit seiner eigenen selbst gebastelten Moralkeule schlägt er auf "die Meinungsmacher von Bild bis Plasberg" (2 Mal) ein, weil sie mit ihrer "Moralität" (9 Mal "Moral") "Moralmobbing" betrieben, indem sie "die niedrigen Instinkte von Ahnungslosen bedienten". Der"Meinungsmacher" Seibt tut selbst, was er den anderen vorwirft: er arbeitet mit undifferenzierten "moralischen" Vorwürfen.

Selbst, wenn Ulla Schmidt jetzt legal gehandelt hat, warte ich "Ahnungsloser" angesichts der Klimakatastrophe und der rasanten Staatsverschuldung, von denen ja auch Frau Schmidt weiß, seit Wochen auf eine sachliche Fakteninformation, auch zur Klärung, ob die Bestimmungen heute noch sinnvoll sind:

Ökonomisch: wie teuer kam dem Steuerzahler dieser Urlaub: Mobilitätskosten (nicht nur Treibstoff, wie die Sprecherin des Ministeriums milchmädchenhaft meinte): Auto, Flug, Lohnkosten des Fahrers? Welche Bürogeräte mussten wirklich befördert werden? Wozu? Wie wird der Mobilitätsbedarf der Politiker bestimmungsgemäß befriedigt, wenn sie in Übersee urlauben?

Ökologisch: wie sieht die Ökobilanz dieses Urlaubes aus: mit wie viel Schadstoffen wurde die Mitwelt durch Fahrt und Flug der Gesundheitsministerin gesundheitlich belastet? Wie könnte eine angemessene Urlaubsgestaltung in Zukunft aussehen? Sollten die Bestimmungen der heutigen Zeit angepasst werden. Dies käme nicht nur der SPD sondern allen Politikern und ihrer Mitwelt zugute."

Normann Hepp Seeg

Soziales Verantwortungsgefühl

"Vielen Dank für den Artikel "Deutsche Berlusconisierung", der einen allgegenwärtigen und perfiden Mechanismus der Medienwelt und seine möglichen Folgen differenziert beleuchtet.

Ich teile Ihre Einschätzung, dass Politiker ihren harten Beruf nicht wegen materieller Gratifikationen sondern aus sozialem Verantwortungsgefühl und Bedürfnis nach Anerkennung ergreifen. Eine ähnliche Motivationslage haben übrigens auch Ärzte. Dennoch hat die Gesundheitsministerin wiederholt der Ärzteschaft grundsätzliche niedrigste materielle Motive unterstellt.

Der Fehler von Ulla Schmidt besteht also nicht, wie Sie resümieren, "in Ihrer mangelnden Bereitschaft, sich den öffentlichen Reflexen anzupassen" sondern in ihrer stetigen Bereitschaft, im gesundheitspolitischen Diskurs eben jenes "Moralmobbing" zu betreiben, das ihr nun selbst zum Verhängnis geworden ist."

Dr. Tobias Sprenger Köln

Diäten verdreifachen

"Gratulation. Gustav Seibts Analyse unserer Medienlandschaft ist in jeglicher Hinsicht zutreffend, vor allem auch hinsichtlich der Gefahren für die Meinungsbildung in unserer Demokratie. In fast 40-jähriger Tätigkeit in der Kommunalpolitik habe ich mich immer wieder schwarz geärgert, wenn ich die Diäten bzw. Sitzungsgelder etc. von Politikern verteidigen mußte. Kaum jemand weiß etwas von den immensen Einkünften der Geschäftsführer und Vorstände kommunaler Unternehmen wie Sparkassen und Versorger, ganz zu schweigen von den entsprechenden Positionen auf Landes- und Bundesebene.

Wer auf solchen Sesseln einmal Platz genommen hat, kommen selten aus den klimatisierten Räumen heraus, muss sich noch seltener öffentlicher Kritik stellen, bezieht oft große Boni und hat ein gesichertes Jahreseinkommen, das das Niveau der Einkünfte unserer Staatsspitzen erreicht oder deutlich übersteigt.

Falls ich es in meiner Eigenschaft ehrenamtlicher Kommunalpolitiker wagte, Zweifel an der Berechtigung solcher Einkommen zu äußern, wurde mir gedeutet, das sei nun mal so und außerdem könne man sonst keine guten Leute bekommen. Der Umkehrschluss ist für mich, dass die Diäten für Berufspolitiker verdreifacht werden müssten, damit sich genügend hoch qualifizierte Bewerber finden. Das wäre doch ein tolles Thema für Guido Westerwelles FDP: "Gutes Geld für gute Leistung - auch in unseren Parlamenten". Dabei braucht sich der FDP-Chef nicht einmal an den Einkünften und Boni der Vorstände der Dax-Unternehmen zu orientieren."

Jürgen Heinrichs Düren

Neuartige Rechnung

"Wahrlich eine treffliche Darstellung der "Schmidt-Affaire", aber doch noch zwei Anmerkungen: Der Bundesrechnungshof bewertet nach Medienangaben die Kosten für die diesmalige private Dienstwagennutzung mit etwa 3000,- Euro. Das ist wahrlich eine ganz neuartige berlusconische Rechnung, welche mit normalen BWL-Regeln nicht nachzuvollziehen ist.

Die "private Dienstreise" war natürlich von Frau Schmidt persönlich initiiert und organisiert worden. Oder würde Frau Merkel als Chefin des Bundeskabinetts ernsthaft den Besuch eines spanischen Dorfbürgermeisters mit solch einem Aufwand für angemessen gehalten haben?"

Otto Stölzle Odenthal

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Quelle:
SZ vom 05.09.2009
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