Süddeutsche Zeitung

Italien:Land der Sehnsucht

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Kein europäisches Land begeistert die Deutschen so sehr wie Italien - auch wenn es manchmal nur schön zu sein scheint. Das Fernweh ist echt.

Von Kurt Kister

Nachbarn hat Deutschland viele, aber es hat eigentlich nur einen Sehnsuchtsnachbarn, selbst wenn es sich mit dem nicht einmal eine Grenze teilt. Dieser Sehnsuchtsnachbar ist Italien, eindeutig. Mit etlichen anderen Ländern, darunter vor allem Frankreich, verbindet Deutschland eine lange, manchmal leider auch blutige Geschichte. Mit Italien aber ist es mehr. Der sehr spezifische Drang in diesen Süden hing nicht nur mit Religion (der Papst in Rom) oder, im Mittelalter der Salier und Staufer, mit Machtpolitik zusammen. Italien galt, nicht erst seit Goethe, als das Land, in dem die Städte als eine Art Musik vergangener Größe nachklangen, in dem die Abende weicher, die Künstler genialer und die Ruinen berührender waren als irgendwo sonst.

Manches davon existiert heute noch in den Köpfen und Herzen vieler Italien-Reisender, die eigentlich keine "normalen" Touristen sein wollen. Die meisten von ihnen haben ihre Lieblingsplätze und Lieblingssehnsüchte: den Sonnenuntergang über den Tempeln von Agrigent, die Schwärme der Stare über den römischen Hügeln, den dantesken Mauerring von Monteriggioni in der Toskana. Dieses Italien der Herzen wird mit zunehmender Dauer der Italophilie bei denen, die es spüren, immer stärker - selbst wenn das reale Italien oft ganz anders ist als jenes Italien, das man fühlt.

Das "wirkliche" Italien ist ein zutiefst europäisches Land mit prägenden mediterranen Zügen. Es ist, wie Deutschland, in den 1870er-Jahren Nationalstaat geworden, aber dennoch sind die Unterschiede etwa zwischen der Lombardei und Kalabrien heute immer noch sehr groß; selbst zwischen Brandenburg und Bayern gibt es mittlerweile mehr Gemeinsamkeiten. Italien hat sich von einem Agrarland zu einer, im weiteren Sinne, Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. Was einst, vor allem im Norden, an Industrie existierte, ist sehr geschrumpft; die Kreativwirtschaft, zu der man die Mode- und Lifestyle-Branche zählen kann, leidet gerade gewaltig unter der Corona-Krise. Politische Stabilität auf der nationalen Ebene ist eher nicht die Regel; kaum irgendwo anders war der Zusammenbruch des etablierten Parteiensystems so deutlich, drastisch und manchmal auch bitter-komisch.

Für Nicht-Italiener, zumal für viele Deutsche, ist vieles in Italien nur schwer zu verstehen und schon gar nicht nachzufühlen. Wie konnte es sein, dass die Leute, die diese wunderbaren Weine machen, diese herrlichen Menüs kreieren, diese schwermütig-fröhlichen Romane schreiben - wie also konnte es sein, dass diese Leute, dieses Land immer wieder den Milliardärs-Clown Berlusconi wählten? Oder, um bei der Politik zu bleiben: Wie konnte eine postfaschistische, eigentlich separatistische Partei wie die Lega mit einem digital gespeisten, zwischen links und rechts changierenden Verein wie den Fünf Sternen eine Regierung bilden?

Antworten auf solche Fragen gibt wer? Natürlich die italienischen Kreativen, die zum Beispiel in einer TV-Serie mit den Staffelnamen "1992", "1993" und "1994" die Entwicklung des Landes in jenen Jahren ebenso düster wie heiter zeigen. Oder Andrea Camilleri, der Altmeister aus dem Süden, dessen Romane um den Commissario Montalbano keine Krimis sind, sondern glänzend geschriebene soziologische Studien der Dinge auf Sizilien und eigentlich in ganz Italien.

Es war tragisch und leider auch wieder nicht so ganz überraschend, dass Italien im Frühjahr zu jenen Ländern gehörte, in denen die Pandemie besonders wütete. Man sah in diesen Monaten Schlechtes und sehr viel Gutes, man litt mit dem Sehnsuchtsland, und man ärgerte sich über die zunächst hierzulande an den Tag gelegte Engstirnigkeit, keine Masken nach Italien liefern zu wollen. Man lächelte aber auch, wenn man einen Satz hörte wie: Wir haben zwar zu wenig Masken, aber die, die wir haben, sind von Gucci und Armani. Wer im Sommer dann doch wieder nach Italien fuhr, nach Sizilien, in die Marken oder nach Umbrien, konnte erleben, dass sich "die" Italiener, jedenfalls die meisten, sehr genau an die eigentlich völlig unitalienischen Regeln hielten: keine Berührungen, das Gesicht bedecken, Distanz in der Bar und in der Trattoria.

In einem Jahr wie diesem träumt man noch häufiger davon, dass alles wieder so sein soll wie im letzten Jahr. Man möchte unmaskiert in Siena sein, man möchte unbehindert und distanzlos - na ja, nicht ganz - in den Bozener Laubengängen herumlaufen, und man möchte endlich mal mit etwas mehr Zeit nach Kalabrien und Apulien fahren. Und außerdem möchte man wieder mal im Sommer oben an der Strandpromenade stehen und auf eines der Bagni schauen, wo die italienischen Familien dicht an dicht unter teuer gemieteten Sonnenschirmen lagern. Und dann sagt man sich: So was möchte ich auf keinen Fall. Und man ist doch so froh, in Italien zu sein.

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Quelle:
SZ vom 11.11.2020
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