Süddeutsche Zeitung

Ende der Reise:Postkarten aus der Felswand

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Was ist nicht alles schon durch die Digitalisierung verloren gegangen? Am Dachstein hält man aber dagegen.

Von Hans Gasser

Ach, was macht die Digitalisierung nicht alles zum Auslaufmodell! Piloten zum Beispiel. Klar, es gibt sie noch, aber das Fliegen übernimmt weitgehend der Autopilot. Bahnschalterbeamte - es soll sie noch geben, aber sie sind so selten wie das Rebhuhn in unserer Agrarlandschaft, durch die der ICE mit 300 km/h brettert. Der Postbote, heute eher in seiner Erscheinungsform als prekär bezahlter, dauerschuftender Paketzusteller verbreitet, trägt kaum noch Briefe oder gar Postkarten aus. Schließlich gibt es dafür ja Apps, mit denen man nicht wie früher auf gedruckten Postkarten einen schönen Berg oder ein Monument an die Lieben verschickt, sondern die wichtigste Sehenswürdigkeit, die heute denkbar ist: ein Foto von sich selbst.

Wie gut, dass die Tourismusmacher am Dachstein da jetzt dagegenhalten. In Kooperation mit der österreichischen Post haben sie im August auf 1955 Höhenmetern einen Briefkasten an eine Felswand schrauben lassen. Am sogenannten Jungfrauensteig, einer beliebten, aber auch steilen Wanderung auf der Südseite des Dachsteins, können Wanderer nun ganz analog Urlaubsgrüße verschicken. Generöserweise sind am Kasten gleich Postkarten mit einem "wunderschönen Dachsteinmotiv" hinterlegt, auch um die Frankierung muss man sich nicht kümmern, das übernimmt der Tourismusverband. 500 Postkarten seien bereits in alle Welt verschickt worden, frohlockt dessen Chef, "sogar nach Madagaskar". Seine Mitarbeiter würden zweimal in der Woche den steilen Weg auf sich nehmen und den Briefkasten leeren.

Ganz so analog-selbstlos wie es aussieht, ist das aber nicht. Denn der eigentliche Grund für den Briefkasten ist ein digitaler: Es wurde ein Video gedreht, in dem ein Postbote hinauf wandert, um den Briefkasten zu leeren, Fotos gibt es auch jede Menge davon, all das kann wunderbar und tausendfach auf allen digitalen Kanälen gelikt und geteilt werden, bis die Server glühen. Was sind dagegen schon 500 Postkarten, selbst wenn sie irgendwann mal in Madagaskar ankommen sollten?

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Quelle:
SZ vom 02.10.2019
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