Süddeutsche Zeitung

Bernina-Express in Graubünden:Lieblingsdorf der "Pufferküsser"

Lesezeit: 4 min

Menschen aus aller Welt zieht es nach Filisur in Graubünden. Ihr Ziel: Züge gucken. Und auch die Einheimischen werden vom "Trainspotter-Virus" infiziert.

Kati Thielitz

Klaus Pfeffer hat Ferien, aber gerade ist er im Stress. Minuten nur noch, bis sich sein Hauptdarsteller am Set blicken lässt; noch einmal prüft Pfeffer Schärfe, Belichtung und Bildausschnitt. 77 Jahre ist er alt, Drehbuchautor, Kamera- und Tonmann in einem. Er zuckt, als sich ein dumpfes Grollen nähert: "Jetzt muss ich mich konzentrieren."

Auftritt Bernina-Express, Bahnhof Filisur, Gleis eins, Klappe, die erste.

Filisur, knapp 500 Einwohner auf halber Strecke zwischen Chur und St. Moritz, ist ein Pufferküsser-Nest. So nennt mancher Schweizer die Eisenbahnliebhaber, die sich fotografierend und filmend an den Gleisen positionieren. Menschen mit geschultertem Stativ, klobiger Kamera vor der Brust und Zugfahrplan in der Hand. Der taktet statt Sonnenaufgang und erstem Hahnenschrei das Leben im Ort. Kein Marktplatz, sondern der Bahnhof ist das Herz von Filisur.

2008 hat die Unesco ein Stück der Albula- und Berninalinie der Rhätischen Bahn zum Weltkulturerbe erhoben - eine Auszeichnung, die sonst nur noch der österreichischen Semmeringbahn und der Darjeeling-Bahn in Indien zuteil wurde. Filisur, direkt an der 122 Kilometer langen Strecke von Thusis nach Tirano gelegen, ist seitdem Bahntouristen aus der ganzen Welt ein Begriff. In naher Umgebung überwindet die Bahn Viadukte, schlängelt sich durch Kehrtunnel hindurch und an steilen Felswänden entlang.

Für Trainspotter ist der Ort daher ein idealer Ausgangspunkt für Erkundungstouren: An einem Tag wandern sie oberhalb der Trasse durch wilde Schluchten Richtung Davos Wiesen; am nächsten fahren sie mit einem Panoramazug durch die Schweizer Alpen bis nach St. Moritz.

"Die Leute kommen aus Amerika, Kanada, ja sogar Australien hierher", sagt Anna Uffer. Die 52-Jährige führt gemeinsam mit ihrem Mann Reto ein Hotel mit Namen Grischuna, Bahnhofsgegend, keine fünf Meter von den Gleisen entfernt. Bestlage. Näher kann man dem Glacier- oder Bernina-Express nun wirklich kaum sein. Am beliebtesten sind die Balkonzimmer zur Trasse, Nordseite, aber um Sonne geht es ja nicht.

Einer, der seit 1989 Urlaub im Grischuna macht, ist Manfred Luckmann. Gut 300 Kilometer von Filisur entfernt wohnt er in einer Dachgeschosswohnung im Münchner Westen - doch in Gedanken ist der 61-Jährige jeden Tag in dem Schweizer Dorf. In seiner Wohnung hängen Drucke der roten Bahnen, 25.000 Dias, schätzt Luckmann, lagern zudem im Schrank. Schmalspurbahnen wie die Rhätische Bahn sind selten, deshalb faszinieren sie Menschen wie Luckmann besonders.

"Da ist jeder Zug eine eigene Komposition", sagt er. Mit vier Jahren bekam Luckmann eine Modelleisenbahn, heute teilt er sich mit zwei Bekannten eine riesige Anlage: 30 Meter Strecke, Bahnhöfe, Kehrschleife und ein Rangierbahnhof als Parkplatz für die Züge, allesamt, versteht sich, Rhätische Bahn. Am liebsten bastele er kleine Idyllen: ein Bauer, der vor seinem Traktor steht, Vater und Sohn auf Bahnurlaub. Manfred Luckmann sagt: "Man schafft sich seine eigene heile Welt." Klein-Graubünden für daheim.

Als ihm die Bastelei nicht mehr reichte, kam dem Informatiker eine Idee: Während eines Urlaubs montierte er auf einem Balkon des Grischuna eine Webcam, per Computer blickt er seither regelmäßig ein paar Minuten lang nach Filisur. Mit ihm besuchen täglich mehr als tausend Menschen die Internetseite. Ab und an sieht man dort, wie Angelo di Caro über die Gleise vor Filisur stapft, einen Mann, der dafür sorgt, dass die Welt der Schienen heil bleibt.

52 Jahre ist er alt, Hände wie Schaufeln, die Haut sonnengegerbt. Seit elf Jahren arbeitet er als Streckenwärter, kontrolliert dreimal pro Woche einen Abschnitt. Er mag die Trainspotter, kennt manche gar mit NamenWie stets trägt er Sicherheitskleidung in leuchtendem Orange, so können ihn die Lokführer rechtzeitig sehen. Für heute hat er die Etappe von Davos Platz nach Filisur fast geschafft, 20 Kilometer, 17 Tunnel, Weichen, Wasserfälle, das Wiesner Viadukt.

Er wischt sich den Schweiß von den Schläfen, als er in der Nachmittagssonne den Bahnhof von Filisur erreicht, nach neun Stunden und 21 Zügen, die an ihm vorbeigedonnert sind.

300 Meter talabwärts im selben Ort steht Pierre Badrutt und zeigt ein Foto des holzgeschindelten Bahnhofsgebäudes in verblichenem Sepia, vor dem festlich gekleidete Menschen aus einer vergangenen Zeit posieren. Der 73-jährige Badrutt hat im Erdgeschoss seines Bauernhauses ein Museum eingerichtet. Dafür hat er zahlreiche historische Fotografien gesammelt, die vom Bau der Albulalinie vor 108 Jahren erzählen.

Auch alte Zugtickets und Postkarten hängen an den Wänden, hinter Glas steht neben einem Reiseführer von 1903 eine rote Modelleisenbahn. Einige Trainspotter kommen in ihrem Urlaub gleich mehrmals hierher. "Aber", sagt Badrutt, ,"ich habe den Virus nicht." Damit ist er die Ausnahme hier.

Die Regel sind Menschen wie Klaus Pfeffer. Er packt Videokamera und Stativ in den Kofferraum seines Autos, für heute hat er genug gesehen. Gerade war er am Landwasser-Viadukt, einer steinernen Eisenbahnbrücke, 20 Minuten Fußweg vom Bahnhof. Morgen geht es ins 15 Kilometer entfernte Preda, Pfeffer will filmen, wie ein Zug aus einem Tunnel herausfährt. "Die ganze Strecke ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst", sagt er. Die deutschen Züge interessierten ihn nicht, weder RE noch EC, ja nicht einmal ICE. Schließlich hätte er selbst zu Hause in Berlin Schweizer Schmalspur-Züge, zumindest im Modellbauformat.

Pierre Badrutt steht jetzt vor der Kirche, Baujahr 1495, sandfarben mit spitzem Turm. Der Museumsbesitzer ist nebenher Tourguide und zeigt einer Gruppe Touristen sein Dorf, 500 Jahre alte Häuser, mit Malereien verziert. Ein Blick auf die Uhr, dann streckt Badrutt den Arm aus und zeigt auf die Berninabahn. Pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk schraubt sie sich oberhalb des Dorfs in den Greifensteintunnel, benannt nach der Ruine, die sich an einen nahen Felsvorsprung krallt.

Sekunden verstreichen, bis der Zug viele Meter höher wieder den Berg verlässt - er ist eine Spirale gefahren, 698 Meter durch uralten Stein. Zwei Männer knipsen, Badrutt grinst.

19 Jahre ist es her, dass die Uffers das Hotel Grischuna übernahmen, inzwischen, sagt Anna Uffer, sei auch sie infiziert. An den Geräuschen erkennt sie sämtliche Loks, schließlich fahren die tagein, tagaus vor ihrer Haustür vorbei. In fünf Vereinen engagieren sich die Uffers für den Erhalt alter Bahnwagen, irgendwann einmal möchten sie mit der Transsibirischen Eisenbahn reisen.

Anna Uffer serviert vier Lokführern aus Deutschland Forelle. Früher, als es den Panoramasaal noch nicht gab, musste sie das Essen oft zweimal aufwärmen. Wenn sich ein Zug ankündigte, liefen die Gäste nach draußen. Jetzt rauscht ein Güterzug draußen vorbei, ein Raunen geht durch den Saal. Anna Uffer lächelt, blickt dem Zug hinterher, dann sagt sie: "Pflegeleichtere Gäste kann es nicht geben."

Surfer brauchen Wind, Skifahrer Schnee, Wanderer gutes Wetter. Aber die Bahn fährt immer.

Informationen

Anreise: Mit der Bahn über München oder Zürich bis Chur, sbb.ch; weiter mit der Rhätischen Bahn nach Filisur, rhb.ch. Mit dem Auto: Über die A 13 Richtung Chur, Ausfahrt Thusis Süd.

Unterkunft: Hotel Grischuna, Filisur, DZ ab 56 Euro; Pauschalwoche "Wintermärchen", inklusive Halbpension und Graubünden-Pass der Rhätischen Bahn ab 660 Euro im DZ.

Weitere Auskünfte: graubuenden.ch, myswitzerland.com, grischuna-filisur.ch; Webcam von Manfred Luckmann unter schmalspurbahn.ch

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Quelle:
SZ vom 01.12.2011
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