Süddeutsche Zeitung

Berlin:Eine Demo? Nein, Touristen!

Lesezeit: 2 min

Nach London und Paris zieht Berlin in Europa am meisten Urlauber an. Doch nicht jeder freut sich über den Ansturm - denn der verändert den Alltag.

Die Touristen, deren Dialekt auf eine Herkunft südlich des Weißwurstäquators deutet, haben sich verfahren. Sie sind mit dem Rad unterwegs. Im Kreuzberger Chamisso-Viertel wird der Stadtplan herausgeholt. "Wo ist die Simon-Dach-Straße? Und wo kann man hier gut Currywurst essen?", wollen die Besucher wissen, eine Anwohnerin hilft.

Touristen vorm Balkon - ein typisches Erlebnis: In Berlin jagt ein Besucherrekord den nächsten. Die Hauptstädter, freilich oft selbst Zugereiste, beobachten, dass die touristische Ameisenstraße bis in die Kieze führt. Das ist ein neueres Phänomen.

Mehr als vier Millionen Touristen kamen im ersten Halbjahr 2010, Berlin ist nach London und Paris die Nummer drei in Europa. Nicht nur am einstigen Grenzübergang Checkpoint Charlie ist es voll.

Abends in der U-Bahn? Italiener mit Reiseführer auf dem Schoß. Im Café? Amerikaner, die auf der Speisekarte nach Spätzle oder Schnitzel suchen. In den Strandbars? Backpacker mit Bierdurst.

Manchem Stipendiaten oder Künstler auf Durchreise gefällt "Börlin" so gut, dass er hängenbleibt. Auch wenn der Charme der 90er Jahre und die wilden Jahre nach dem Mauerfall vorbei sind: Die Spuren der Berliner Mauer, der volle Kulturkalender, die vielen alternativen Läden, Galerien und Clubs - das zieht noch immer. Es gibt mittlerweile über 100 Hostels. Und Streits, die schwelen.

Am Landwehrkanal sind Anwohner genervt, wenn junge Leute dort in lauen Nächten feiern und trommeln, bis der Mediator kommt. Nicht immer gern gesehen sind in den Bars die Partyhorden, die den Abschied vom Junggesellen-Dasein begießen. Und dass die Besucher zuweilen wie Kühe auf der Landstraße den Radweg blockieren, stört manche Berliner, die sich andererseits freuen, dass ihre Stadt so angesagt ist.

Die Touristen im Kiez? "Wahnsinn!", sagt Gastronomin Senay Celik, die vor ihrem Café "Knofi" in der Kreuzberger Bergmannstraße sitzt.

Neulich hat Celik gedacht, es sei eine Demo im Viertel. Dabei war es nur wegen der Touristen so voll. Trödelläden sind verschwunden, immer neue Cafés öffnen. "Die Bergmannstraße hat sich sehr verändert." Anonymer sei es geworden, auch wenn "Knofi" weiter seine Stammkundschaft habe, erzählt Celik.

Sie weiß, dass die Mieten steigen können, wenn ein Laden im Stadtführer steht. Die Reisenden, die in ihrer Straße unterwegs sind, findet sie aber "sehr angenehm". Auch Dominik Bausinger sieht den Wandel in seinem Viertel mit gemischten Gefühlen.

Die Oberbaumbrücke, nahe der sein Restaurant "San Remo Upflamör" liegt, sei "sehr touristisch" geworden, findet er. "Die Läden für den täglichen Bedarf sind auf dem Rückzug." Schon morgens hört er im benachbarten Wrangelkiez Englisch - "Dauertouristen", die dort leben.

Wobei Bausinger die Besucher, die die Szene zwischen Friedrichshain und Kreuzberg erkunden, nicht unsympathisch findet. "Ob dieses Leben, an dem sie teilhaben wollen, überhaupt noch stattfindet, weiß man nicht", sagt er nachdenklich. "Mich würde es nicht wundern, wenn es im Mauerpark einen Campingplatz gibt", sagt der in Moskau geborene Bestsellerautor Wladimir Kaminer ("Russendisko"), der im Prenzlauer Berg wohnt.

Anders als in Paris oder Barcelona seien die Berliner nicht von dem Ansturm genervt. Wie sich seine Wahl-Heimat entwickelt hat, findet Kaminer in Ordnung. "Die Einwohner unterscheiden sich gar nicht mehr von den Touristen." Und: "Bis jetzt haben sich die Berliner gut angepasst bei allem, was passiert ist."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.994696
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
dpa, Caroline Bock
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.