Anthropologie

Die Geschichte vom Lippenkuss

Für den Frieden, die Fortpflanzung, zur Fütterung: Warum Menschen begonnen haben, sich auf den Mund zu küssen.

20. August 2022 - 9 Min. Lesezeit

Herpes hat auch sein Gutes. So lästig das Jucken ist, die Bläschen und die Wunden mitten im Gesicht, so ärgerlich es ist, dass der Erreger nie wieder ganz verschwindet, und so klein vermutlich der Trost für akut Betroffene sein wird: Wenigstens für die Wissenschaft sind Herpesviren wahrhaftig nütze. Weil sich ihr Genom analysieren und durch die Zeit verfolgen lässt, erlauben sie Rückschlüsse darauf, wann und auf welche Weise sie sich verbreitet, sich die Menschen also mit ihnen angesteckt haben. Das geschieht oft über Tröpfchen, also über den Mund. Und deshalb gewähren die Viren jetzt einen seltenen naturwissenschaftlichen Blick auf die Geschichte des Küssens – und damit auf einen Bereich der Kulturgeschichte, der sich sonst schwer greifen lässt.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um die Genetikerinnen Meriam Guellil von der Universität Tartu und Lucy van Dorp vom University College London haben moderne und antike DNA von Herpesviren miteinander verglichen. In der Fachzeitschrift Science Advances berichten sie: Auch wenn es Herpesviren bereits seit Millionen von Jahren gibt, so habe sich der heute verbreitete Virenstamm HSV-1 in Europa erst in den vergangenen 5000 Jahren durchgesetzt. Am Anfang standen demnach Einwanderer aus der eurasischen Steppe, die vor allem in der Bronzezeit nach Westen zogen. Sie hatten die neuen Herpesviren im Gepäck – und nicht nur sie, sondern auch das Patentrezept, um die Viren möglichst rasch zu verbreiten. Wurden sie zuvor hauptsächlich von Mutter zu Kind übertragen, brachten die Einwandernden nun eine neue Kulturtechnik nach Europa: den romantischen Kuss.

Der heute in Europa allgegenwärtige Kuss ist demnach ein Kulturimport. Tatsächlich ist es nicht selbstverständlich, dass sich Liebende auf den Mund küssen. Die Idee, das sei überall auf der Welt so üblich und immer so gewesen, sei ein im Westen verbreitetes Missverständnis, meinte zuletzt ein Team um den Anthropologen William R. Jankowiak von der Universität Nevada in der Zeitschrift American Anthropologist. Es beruhe wohl darauf, dass Menschen dazu neigten, ihre jeweils eigene Kultur für normal zu halten.

Anthropologie

Die Geschichte vom Lippenkuss

Für den Frieden, die Fortpflanzung, zur Fütterung: Warum Menschen begonnen haben, sich auf den Mund zu küssen.

Herpes hat auch sein Gutes. So lästig das Jucken ist, die Bläschen und die Wunden mitten im Gesicht, so ärgerlich es ist, dass der Erreger nie wieder ganz verschwindet, und so klein vermutlich der Trost für akut Betroffene sein wird: Wenigstens für die Wissenschaft sind Herpesviren wahrhaftig nütze. Weil sich ihr Genom analysieren und durch die Zeit verfolgen lässt, erlauben sie Rückschlüsse darauf, wann und auf welche Weise sie sich verbreitet, sich die Menschen also mit ihnen angesteckt haben. Das geschieht oft über Tröpfchen, also über den Mund. Und deshalb gewähren die Viren jetzt einen seltenen naturwissenschaftlichen Blick auf die Geschichte des Küssens – und damit auf einen Bereich der Kulturgeschichte, der sich sonst schwer greifen lässt.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um die Genetikerinnen Meriam Guellil von der Universität Tartu und Lucy van Dorp vom University College London haben moderne und antike DNA von Herpesviren miteinander verglichen. In der Fachzeitschrift Science Advances berichten sie: Auch wenn es Herpesviren bereits seit Millionen von Jahren gibt, so habe sich der heute verbreitete Virenstamm HSV-1 in Europa erst in den vergangenen 5000 Jahren durchgesetzt. Am Anfang standen demnach Einwanderer aus der eurasischen Steppe, die vor allem in der Bronzezeit nach Westen zogen. Sie hatten die neuen Herpesviren im Gepäck – und nicht nur sie, sondern auch das Patentrezept, um die Viren möglichst rasch zu verbreiten. Wurden sie zuvor hauptsächlich von Mutter zu Kind übertragen, brachten die Einwandernden nun eine neue Kulturtechnik nach Europa: den romantischen Kuss.

Der heute in Europa allgegenwärtige Kuss ist demnach ein Kulturimport. Tatsächlich ist es nicht selbstverständlich, dass sich Liebende auf den Mund küssen. Die Idee, das sei überall auf der Welt so üblich und immer so gewesen, sei ein im Westen verbreitetes Missverständnis, meinte zuletzt ein Team um den Anthropologen William R. Jankowiak von der Universität Nevada in der Zeitschrift American Anthropologist. Es beruhe wohl darauf, dass Menschen dazu neigten, ihre jeweils eigene Kultur für normal zu halten.