100 Jahre Wembley

Mythos Maximus

Ein weißes Pferd, das in Wahrheit grau war, ein Wembleytor, das in Wahrheit kein Tor war – und eine unerfüllte Sehnsucht des großen Pelé. Wie Englands berühmtes Nationalstadion es bis heute schafft, Tradition und Moderne zusammenzubringen.

100 Jahre Wembley

Mythos Maximus

Ein weißes Pferd, das in Wahrheit grau war, ein Wembleytor, das in Wahrheit kein Tor war – und eine unerfüllte Sehnsucht des großen Pelé. Wie Englands berühmtes Nationalstadion es bis heute schafft, Tradition und Moderne zusammenzubringen.

27. April 2023 - 4 Min. Lesezeit

Der große Pelé hat ein in jeder Hinsicht aufregendes Leben geführt, als Mensch und Mann und Fußballer, aber ein Versäumnis hat er bedauert, so hat er es vor Jahren in einem Interview jedenfalls gesagt: „Dass ich nie in der Kathedrale des Fußballs gespielt habe: im Wembley-Stadion.“ Tatsächlich, bei der Weltmeisterschaft 1966 in England war Pelé mit den Brasilianern nicht über die Vorrunde und damit auch nicht über den Goodison Park in Liverpool hinausgekommen. Und bei seinen Welttourneen mit den anderen Zauberern vom FC Santos kam er zwar bis ins Grünwalder nach Giesing, aber nie nach Wembley. Auch in der Fußballgeschichte gibt es Fehlstellen.

Wobei die Inbrunst, mit der Pelé einen Auftritt in Wembley herbeigesehnt hat, die Bedeutung dieses Stadions nur noch einmal verdeutlicht. Es ist eine Legende, auf einer Höhe mit dem Maracanã in Rio. Hundert Jahre Wembley feiern die Engländer an diesem Freitag. Am 28. April 1923 wurde das Stadion mit dem FA-Cup-Finale Bolton Wanderers – West Ham eingeweiht.

127 000 Leute passten damals hinein, ungefähr doppelt so viele wollten rein, und sofort setzte sich die Lawine der Erzählungen in Gang, die das Wembley-Stadion vom ersten Moment an vom Bauwerk zum Mythos werden ließen.

Um das Gedränge in den Griff zu kriegen – die Massen standen schon auf dem Rasen –, schickte die Polizei berittene Kräfte. Es waren mehrere Pferde, die für Ordnung sorgten, vor allem eines aber ist in Erinnerung geblieben:

Billy, geritten und geführt von Constable George Scorey, dem sprichwörtlichen Retter auf dem weißen Pferd.

127 000 Leute passten damals hinein, ungefähr doppelt so viele wollten rein, und sofort setzte sich die Lawine der Erzählungen in Gang, die das Wembley-Stadion vom ersten Moment an vom Bauwerk zum Mythos werden ließen.

Um das Gedränge in den Griff zu kriegen – die Massen standen schon auf dem Rasen –, schickte die Polizei berittene Kräfte. Es waren mehrere Pferde, die für Ordnung sorgten, vor allem eines aber ist in Erinnerung geblieben:

Billy, geritten und geführt von Constable George Scorey, dem sprichwörtlichen Retter auf dem weißen Pferd.

Das treue Tier wird nach wie vor verehrt von den traditionsbewussten englischen Pferde- und Fußballfreunden, am Wembley Park Boulevard residiert ein Pub namens White Horse.

Rückblickend könnte man glauben, dass sich alles, was der englischen Nationalmannschaft in ihrer Geschichte glückte oder widerfuhr, in Wembley zugetragen hätte, aber die Engländer spielten in ihren früheren Jahren nicht zwingend in Wembley, das 4:3 gegen Österreichs Wunderteam um Matthias Sindelar 1932 etwa wurde an der Stamford Bridge errungen. In Wembley aber fand und findet das FA-Cup-Final statt, während des Zweiten Weltkriegs allerdings nicht, da war Wembley eine Flüchtlingsnotunterkunft. Und selbstverständlich in Wembley fand im November 1953 das sogenannte „Spiel des Jahrhunderts“ statt, als eine englische Nationalmannschaft erstmals in England verlor. Ungarn gewann mühelos mit 6:3 und erteilte den Gastgebern eine Lektion über modernen Fußball. „All diese fantastischen Spieler waren für uns Männer vom Mars“, sagte Sir Bobby Robson später über seine Begegnung mit der Mannschaft um Ferenc Puskás.

Dass auch die allermeisten Deutschen mit dem Traditionsbegriff Wembley etwas anfangen können (und ihn nicht mit dem klangähnlichen Traditionsbegriff Wimbledon durcheinanderwerfen), liegt, einerseits, an großen dort errungenen Siegen.

Dem EM-Titel 1996 mitsamt Bierhoff-Golden-Goal gegen Tschechien, und vor allem dem sagenhaften 3:1 im Frühjahr 1972.

Netzer, Müller, Beckenbauer, die Schlüsselfiguren der womöglich besten deutschen Nationalelf der Geschichte, zauberten stilsicher zu Ehren des heiligen Rasens von Wembley in grasgrün leuchtenden Trikots.

Und, andererseits, liegt es an einer großen Niederlage. WM-Finale 1966, 2:4 gegen England – das Spiel, bei dem für England das weltberühmte Wembleytor fiel, das in Wahrheit gar kein Tor war.

Dem EM-Titel 1996 mitsamt Bierhoff-Golden-Goal gegen Tschechien, und vor allem dem sagenhaften 3:1 im Frühjahr 1972.

Netzer, Müller, Beckenbauer, die Schlüsselfiguren der womöglich besten deutschen Nationalelf der Geschichte, zauberten stilsicher zu Ehren des heiligen Rasens von Wembley in grasgrün leuchtenden Trikots.

Und, andererseits, liegt es an einer großen Niederlage. WM-Finale 1966, 2:4 gegen England – das Spiel, bei dem für England das weltberühmte Wembleytor fiel, das in Wahrheit gar kein Tor war.

Wie damals beim weißen Pferd, das in Wahrheit gar nicht weiß war: Um Wembley zu verstehen, muss man zweimal hinschauen.

Was noch? Live-Aid-Konzert im Wembley, Nelson-Mandela-Benefiz-Konzert in Wembley, Messe mit Papst Johannes Paul in Wembley, Michael Jackson bei der „Bad“-World-Tour: sieben Konzerte in Wembley, alle natürlich ausverkauft. Dann Ausstand 2001, zum Abschied traf Dietmar Hamann zum 1:0 für Deutschland gegen England, jetzt ist er der personifizierte Didiman beim Fußballsender Sky.

Mick Jagger und die Rolling Stones spielen 1982 im ausverkauften Wembley-Stadion.
Mick Jagger und die Rolling Stones spielen 1982 im ausverkauften Wembley-Stadion.

Manchen stutzt die Zeit auf Normalmaß, manchem gesteht sie alte Größe dauerhaft zu. Das alte Wembley-Stadion wurde 2002 abgerissen und bis 2007 neu aufgebaut, am selben Platz. Statt der beiden Türme und der 39 Stufen zur Royal Box nun ein 133 Meter hoher Stahlbogen als Kennzeichen. Und tatsächlich: Das Charisma dieses Ortes war nicht kaputtzukriegen. Wembley war nicht mehr Wembley, aber Wembley blieb doch Wembley; in ihrem neuen, alten Nationalstadion hechelten die Engländer gewohnt verzweifelt dem nächsten großen Sieg nach 1966 hinterher und hatten ihn schon fast gepackt, bevor sie das EM-Finale 2021 dann doch noch hergaben, gegen recht alte Italiener. Im Elfmeterschießen.

Hundert Jahre Wembley also, Geburtstag zweier Stadien, die eins sind. Nächste schöne Geschichte: wie im vergangenen Sommer die englischen Fußballerinnen um die hervorragende Georgia Stanway in Wembley ihr großes Finale spielten, natürlich gegen Deutschland. Und wie es diese Frauen waren, die die Europameisterschaft gewannen und also einen Sieg holten, dem die Männer all die Jahre hinterhergerannt waren. Ein Triumph für die vergleichsweise junge Sportart Frauenfußball. In Wembley erkämpft, in einem Stadion, das über eine Fußgängerbrücke zu erreichen ist, die White Horse Bridge genannt wird, nach dem Pferd von 1923.

Man muss in Wembley gar nicht zweimal hinschauen, um zu erkennen: Doch, Tradition und Moderne lassen sich zusammenbringen. Man braucht nur einen Schauplatz dafür, der magisch genug ist. Einen wie Wembley.

Team
Text Holger Gertz
Digitales Storytelling Niklas Keller