Transparenz-Blog

Wie prüft die SZ Bilder aus sozialen Medien?

Fotos und Videos zum Krieg in der Ukraine fluten das Netz. Die SZ versucht, diese zu verifizieren. Osint-Journalistin Lea Weinmann über die Möglichkeiten von "Open Source Intelligence" im Journalismus.

Lea Weinmann, Digital-Volontärin
2. März 2022 - 5 Min. Lesezeit

Als wir am 24. Februar 2022 aufwachten, war Krieg in Europa. Die erste Meldung einer deutschen Nachrichtenagentur zur russischen Invasion erreichte uns Medienschaffende um 4.12 Uhr. Kurz darauf waren die sozialen Netzwerke geflutet mit Videos und Fotos: Handykameras, die Raketeneinschläge filmen. Webcams, die Panzerkolonnen auf staubigen Straßen dokumentieren. Brennende Wohnhäuser, Verletzte, Tote.

Wenn heutzutage etwas auf der Welt passiert, kann man darauf wetten, dass kurze Zeit später jemand etwas dazu im Netz veröffentlicht. Das kann eine riesige Bereicherung für den Journalismus sein. Weil so Ereignisse dokumentiert und aufgeklärt werden können, die früher viel leichter zu Propagandazwecken umgedeutet werden konnten. Es birgt aber auch Herausforderungen. Denn: Wie stellt man sicher, dass die Bilder auch wirklich das zeigen, was sie zu zeigen vorgeben? Wie finden wir heraus, wo genau ein Video aufgenommen wurde? Und ob es tatsächlich aktuell oder schon Jahre alt ist? Wir bei der Süddeutschen Zeitung berichten grundsätzlich nur über das, was wir selbst oder andere vertrauenswürdige Quellen verifizieren konnten.

Das bedeutet, sich die Bilder ganz genau und kritisch anzuschauen. Zuerst wird die Quelle geprüft – also in diesem Fall zum Beispiel der Social-Media-Account, der das Material veröffentlicht hat. Gehört er zu einer zuverlässigen Organisation, zum Beispiel einer NGO oder einem anerkannten Medium? Hat die Person dahinter die Inhalte schon geprüft, bevor sie sie weiterverbreitet hat? Verfolgt die Person womöglich politische Interessen? Gibt es Aufnahmen von anderen, die dasselbe Geschehen festgehalten haben?

„Open Source Intelligence“ heißt: öffentliche Quellen finden und auswerten

Die Verifikation von Bildmaterial im Netz gehört zum breiten Feld der sogenannten „Open Source Intelligence“, kurz Osint. Der Begriff stammt aus der Welt der Geheimdienste, taucht aber immer häufiger auch in Redaktionen auf, auch in Deutschland. Er bedeutet unterm Strich nichts anderes, als öffentlich im Netz verfügbare Quellen zu finden und strukturiert auszuwerten. Und damit sind wirklich alle Quellen gemeint: Nicht nur Fotos und Videos in sozialen Netzwerken, sondern auch Datenbanken, Dokumente, Satellitenbilder, Internetarchive, Flugzeug- und Schiffstracker. Osint-Journalistinnen und -Journalisten benutzen zudem verschiedene Onlinetools, die ihnen die Recherche erleichtern.

Das läuft dann so ab: Zur Verifikation von Bildmaterial gehört meistens, es genau zu verorten. Osint-Fachleute sprechen vom Geolokalisieren. Dabei helfen Online-Kartendienste wie Google Maps. Dieses Video haben wir beispielsweise vor der Invasion für einen Artikel über die russischen Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine geolokalisiert. Es zeigt einen verschneiten Bahnübergang, an dem ein Zug mit mindestens einem Dutzend Panzern vorbeirollt.

Mithilfe von Streetview-Aufnahmen bei Yandex Maps, quasi dem russischen Pendant zu Google Maps, haben wir exakt den Bahnübergang gefunden, an dem das Video aufgenommen wurde. Der russischsprachige Text im Video gab den 21. Januar 2022 an. Wann das Video aber genau entstanden ist, ließ sich nicht herausfinden. Der Texthinweis allein reichte zur Verifikation nicht aus. Deshalb haben wir diese Unsicherheit im Text transparent gemacht. Unter anderem wegen der Witterungsbedingungen konnten wir allerdings davon ausgehen, dass das Video erst wenige Tage alt war.

Gute Recherche braucht Zeit, gerade im Netz

Die Recherche für den Artikel hat uns mehrere Tage beschäftigt. Denn trotz aller hilfreichen Werkzeuge, die das Netz zu bieten hat, sind Osint-Recherchen oft langwierig. Gute Recherche braucht Zeit, auch und gerade im Netz. Wenn, wie vergangene Woche, plötzlich vieles zeitgleich passiert, noch dazu in einem anderen Land, können wir nicht alle Bilder, die uns über die Netzwerke erreichen, in der Kürze der Zeit verifizieren. Es sind schlicht zu viele.

Dennoch gehört zu einer fundierten Berichterstattung heutzutage, dass man die Inhalte aus sozialen Medien nicht einfach ausklammert. Im Fall der Ukraine kommt uns die riesige Osint-Community auf Twitter zu Hilfe. Denn Osint ist eine Disziplin, die sich grundsätzlich jede und jeder aneignen kann. Man braucht dafür keine journalistische Vorerfahrung – nur Neugierde und ein bisschen Geduld. Als der Angriff auf die Ukraine begann, klemmten sich also weltweit Leute hinter die Bildschirme und versuchten, Ordnung ins Chaos zu bringen.

Unter anderem das britische Recherchenetzwerk Bellingcat, einer der Vorreiter im Osint-Journalismus, koordiniert die Analysen und teilt nur das, was schon von anderen oder ihnen selbst verifiziert wurde. Die Süddeutsche Zeitung kann auf diese Recherchen aufbauen – nachdem sie den Rechercheweg selbst noch einmal nachvollzogen hat. Denn auch seriöse Quellen machen Fehler.

Was können wir zeigen und was nicht?

Und selbst wenn wir die Echtheit von Bildern geprüft haben, veröffentlichen wir nicht alles. Etwa, weil die Inhalte zu explizit sind. Auch ethische Fragen spielen eine Rolle. Vor wenigen Tagen kursierte die Aufzeichnung einer Webcam in der Ukraine im Netz. Zu sehen: eine Straße, darauf russische Transporter und Soldaten. Auch in unserem Artikel haben wir diese Webcam genannt. Um kurz nach elf Uhr am Freitagvormittag kletterte einer der Soldaten auf den Mast, an dem die Kamera hing – und drehte sie nach unten.

Nicht unmöglich, dass die Soldaten damit auf die Hinweise der Twitter-Community reagierten. Klar ist: Wer öffentlich zugängliche Quellen einem breiten Publikum bekannt macht, trägt auch für die Folgen eine Mitverantwortung. Darüber werden wir bei der Süddeutschen Zeitung in den kommenden Wochen sprechen.

Team
Digitales Design: Lea Gardner
Illustration: Bernd Schifferdecker
Redaktion Karoline Meta Beisel, Markus C. Schulte von Drach