Der tote Pavian 18062 und der rückenkranke Thomas
Woska haben etwas gemeinsam: Sie sollten Teil einer medizinischen Revolution
sein, die mit einem Skandal endete. Die künstliche Bandscheibe Cadisc-L, ein
dämpfendes Kissen aus Kunststoff, war der menschlichen Bandscheibe
nachempfunden.

Hersteller
Der Skandal liegt darin, dass Cadisc-L Menschen implantiert wurde, obwohl zuvor schon Versuche an Affen schlimm ausgegangen waren. Bis heute musste die Prothese bei mindestens 80 aller rund 200 Cadisc-L-Patienten wieder herausoperiert werden.
Die Ärzte rieten ihm zur Bandscheibenprothese Cadisc, sagt er, mit der könne er schmerzfrei leben. Woska stimmte zu, die Ärzte setzten ihm die neue Bandscheibe zwischen die Wirbel. Es dauerte gut eine Stunde.
Ein paar Monate lang ging es gut. Dann, sagt Woska, sei der Schmerz zurückgekehrt. Er kündigte seinen Job als Schlosser auf einer Werft, zu stark war das Stechen im Rücken. Nachts habe er sich im Bett gewälzt, sah fern, wenn er nicht schlafen konnte, und rauchte, wenn er nicht mehr fernsehen konnte. Er war wütend, weil er nicht einmal mehr eine Wasserkiste heben konnte. „Er saß auf einem Pulverfass“, sagt seine Frau.
Etwa
jeder dritte erwachsene Deutsche leidet unter Rückenproblemen. Hunderttausende
werden jedes Jahr an der Bandscheibe operiert. Eine Standardmethode, die
Versteifung, ist so brachial, wie sie klingt: Zwei Wirbel werden mit Metall
verschraubt. Viele Patienten sind danach nicht mehr so beweglich.
Der Unternehmer Geoffrey Andrews, der Cadisc-L auf den Markt brachte, hatte seine Firma Ranier Technology 1995 im britischen Cambridge gegründet. Mehr als acht Jahre lang forschte die Firma, laut Andrews kostete die Entwicklung der Wunderscheibe mehr als 20 Millionen Pfund. 2001 hatte Andrews ein Patent angemeldet zur Herstellung von medizinischen Formen aus speziellem Kunststoff – die Grundlage für Cadisc-L.
Aber das Produkt scheiterte im Praxistest. Schon in der ersten Studie, als Cadisc-L Affen eingesetzt wurde, fiel es durch. Soweit sich dies rekonstruieren lässt, hatte man die Prothesen falsch eingesetzt. „Unsachgemäße chirurgische Platzierung“, heißt es in einem 2009 von Ranier verfassten Papier, das SZ, NDR und WDR einsehen konnten.
Über eine Anwaltskanzlei ließ Andrews zuletzt dem britischen Sender BBC mitteilen, dass Cadisc-L niemals Pavianen implantiert worden sei. Das widerspricht jedoch sowohl einer Veröffentlichung im Fachmagazin Orthopaedic Proceedings als auch vor allem den Unterlagen, die den Reportern vorliegen.
Demnach kam Pavian 18062 ins Spiel, eines von mindestens fünf Tieren einer zweiten Cadisc-L-Studie.
Pavian 18062 bekam das Implantat vermutlich im Jahr 2008 eingesetzt. Nach drei Monaten wurde der Pavian geröntgt und in einen Computertomografen (CT) geschoben, nach drei weiteren Monaten noch mal. Dann wurde er wohl eingeschläfert. Der Laboraffe hatte seinen Zweck erfüllt.
Die Aufnahmen von Pavian 18062 und den vier weiteren Affen schickte die Firma Ranier laut Unterlagen zur Begutachtung an die Röntgenabteilung einer Uniklinik in Cambridge. Ein Radiologe schrieb im Juni 2009 einen ernüchternden, 30-seitigen Bericht: Bei Pavian 18062, hieß es, sei sechs Monate nach dem Einsetzen der Cadisc-L eine zunehmende Auflösung des Knochens auf beiden Seiten des Implantats zu sehen, zudem sei die künstliche Scheibe „leicht nach links gewandert“. Sichtbar sei ein großes Ödem auf beiden Seiten des Rückenmarks. Es sehe aus, als habe sich Flüssigkeit zwischen Implantat und Knochen gesammelt, was auf eine Entzündung oder eine Lockerung des Implantats hindeute.
Auch auf den Bildern eines anderen Versuchsaffen fielen dem Radiologen „erhebliche Mengen an Flüssigkeit“ auf. Er sah keine Anzeichen dafür, „dass sich das Implantat mit dem Knochen verbunden hat“. Schon nach sechs Monaten seien bei fast allen Versuchsobjekten „beunruhigende Veränderungen“ zu beobachten.
Vier Tage später, am 29. Juni 2009, tagten in einem Londoner Hotel die Firmenleitung und der vierköpfige wissenschaftliche Beirat von Ranier – zu Letzterem gehörten auch zwei Schweizer Ärzte, einer davon ein Spitzenmediziner. Das neunseitige Sitzungsprotokoll beschreibt, wie die Forscher den Radiologenbefund damals besprachen. Der Spitzenmediziner erklärte demnach, er sei überhaupt nicht einverstanden mit den Schlussfolgerungen des britischen Radiologen. Die Röntgenbilder beunruhigten ihn keineswegs. Der Befund habe „mit der Realität nichts zu tun“.
Er schlug einen Pilotversuch mit drei bis fünf Menschen vor, anstatt der ursprünglich geplanten Studie mit etwa 50 Patienten. Das sei ethisch vertretbar, sagte der Spitzenmediziner. Man solle abermals Röntgenbilder und CT-Aufnahmen auswerten, aber diese müssten „nicht ins Protokoll“. Dann sprachen die Anwesenden darüber, den Chirurgen der anstehenden klinischen Studie nur einen Teil der Informationen zu geben, um sie nicht zu „verwirren“. Sämtliche Daten sollten „richtig gefiltert und formuliert“ werden, bevor man sie den Klinikärzten gebe – um 12.30 Uhr gingen die Herren zum Lunch.
Zwei Monate später stellte ein Spezialist der Universität Cambridge der Firma Ranier Technology die Analyse von Gewebeproben aus dem Affen-Test vor. Alle Proben aus den Körpern der Paviane zeigten laut seiner Präsentation, die die SZ einsehen konnte, dass es zu einem gewissen Maß an Knochenschwund gekommen sei.
Zwei Monate später präsentiert ein Gewebeproben-Spezialist der Firma Ranier Technology dann die Analyse von Gewebeproben. Alle Proben aus den Körpern der Paviane zeigen, dass sich der Knochen auflöst. In einer Wirbelsäule ist das fatal.
Dennoch startete Ranier im Herbst 2009 die erste Studie an Menschen. An mindestens drei Kliniken in Belgien, Deutschland und den Niederlanden wurden Patienten Cadisc-L-Prothesen eingesetzt. Vorher mussten Probanden unterschreiben, dass ihnen bewusst sei, an einer Studie teilzunehmen. Statt der ursprünglich geplanten fünf Patienten nahmen schließlich 29 an der Studie teil. Die Ärzte setzten ihnen die Prothese ein, die sich schon bei Pavianen nicht bewährt hatte.
Manche der Probanden sahen in dem Eingriff einen letzten Ausweg.
Einer von ihnen, der Bayer Andreas Rode, hatte sich nach einem Bandscheibenvorfall von Krankenhaus zu Krankenhaus geschleppt, weil er seine Schmerzen loswerden wollte, ohne sich die Wirbelsäule versteifen zu lassen. Ein Arzt, erzählt der gelernte Metzger heute, habe ihm die Teilnahme an der Studie für die neue Bandscheibenprothese empfohlen: „Der sagte: ‚Ich schwör’s Ihnen, Ihnen geht es hinterher genauso gut wie vorher, wo gar nichts war.‘“
Im Frühjahr 2010 wurden die ersten Cadisc-L-Bandscheiben eingesetzt, von einer „Deutschland-Premiere“ schwärmte etwa ein Arzt im Straubinger Tagblatt. Die Zeitung nannte es einen „Quantensprung in der Operationstechnik“. Dieser Arzt soll noch zehn weiteren Patienten eine Cadisc-L implantiert haben, bei mehreren kam es offenbar zu Komplikationen.
Auch Andreas Rode bekam zu jener Zeit seine Prothese implantiert. Später mussten ihm in mehreren Operationen Plastikteile aus der Wirbelsäule herausoperiert werden. Der für die Implantation verantwortliche Arzt will sich auf Anfrage nicht äußern.
Die
Menschenstudie verlief alles andere als reibungslos. Im Sommer 2010 wurden dem
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte „schwerwiegende
unerwünschte Ereignisse“ gemeldet. Trotz dieser Probleme erhielt Ranier
Technology am 24. August 2010 von der privaten britischen Prüfstelle BSI das
CE-Zertifikat. Damit ließ sich das Produkt auf dem gesamten europäischen Markt
verkaufen.
Von der missglückten Affenstudie habe sie damals nichts gewusst, erklärt die britische Prüfstelle heute. Allerdings hätte die Firma Ranier Technology die Information laut den damals geltenden Leitlinien vorlegen sollen, sagen Experten. „Die Rechtfertigung der Tierversuche ist ja gerade eine Nutzen- und Risikoabwägung. Wenn man die Ergebnisse dann verheimlicht, wird das natürlich ad absurdum geführt“, sagt Kurt Racké vom Vorstand des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland. „Das ist extrem unlauter.“
Den Verkauf der Kunststoffscheiben läutete im Jahr 2010 jener Schweizer Spitzenmediziner ein, der zum Wissenschaftsbeirat von Ranier gehörte. Er sprach auf einem Ärztekongress in Wien und ließ sich in einem Werbetext der Firma mit den Worten zitieren: „Zum ersten Mal haben wir ein Implantat in den Händen, das den natürlichen Gegebenheiten am nächsten kommt.“ Deswegen seien die Studienergebnisse so „ermutigend“. Heute will sich der Arzt auf Anfrage nicht dazu äußern.
Nach der Markteinführung verkaufte Ranier Technology die Cadisc-L an Ärzte und Kliniken in Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und in den Niederlanden. Die meisten Prothesen gingen an das Klinikum in Leer. Mindestens 110 Patienten erhielten in dem niedersächsischen Krankenhaus die Prothese, unter ihnen der frühere Schlosser Thomas Woska.
Ein paar Wochen nach der OP legen Reporter von SZ, NDR und WDR dem Orthopäden Ritter-Lang in seiner Potsdamer Praxis die Studie zu Pavian 18062 vor. Der Arzt liest und staunt. „Das ist ganz übel“, sagt er. Ritter-Lang klickt sich durch die Studie, kommentiert knapp: „Flüssigkeitssignale“, „entzündungsähnliche Reaktionen“, „Knochenverlust“. Für Ritter-Lang, 55, sind die Befunde so klar wie die Konsequenzen, die daraus hätten folgen müssen. „Die Prothese wird im Körper nicht sicher integriert“, sagt er. Es entstehe keine stabile Verbindung zwischen Knochen und Prothesenoberfläche. Keinem einzigen Menschen hätte sie eingesetzt werden sollen.
Rückblickend steht fest, dass Cadisc-L zu keinem Zeitpunkt überzeugt hat. Bei vier von fünf Pavianen gab es Komplikationen. Bei den menschlichen Probanden wurden laut einem internen Sicherheitsbericht bis Ende 2014 europaweit 32 Mal Verletzungen und gefährliche Zwischenfälle an die Behörden gemeldet. Einige der 29 Probanden haben anscheinend sogar mehrere Male Schwierigkeiten offenbart. Bei mindestens sechs von ihnen musste die Prothese sogar entfernt werden.
Ähnlich ging es nach der Markteinführung weiter. Der einstige Chefarzt des Klinikums Leer, wo allein 110 Cadisc-L zum Einsatz kamen, ist mittlerweile entlassen worden. Die Staatsanwaltschaft Aurich hat ihn im vergangenen Jahr wegen Körperverletzung angeklagt. Körperverletzung deshalb, weil den Patienten eine andere Prothese versprochen worden sein soll, als sie letztlich bekommen haben. Dutzenden seiner früheren Patienten habe die Cadisc-L wieder entfernt werden müssen, sagt der Chirurg Ritter-Lang. Das Klinikum Leer wollte sich auf Anfrage nicht äußern.
Ritter-Lang sagt, er habe im Körper seiner Patienten das beobachtet, was sich schon bei Pavian 18062 gezeigt hatte: kleine Löcher im Wirbel, kaputte Knochen. „Die Bilder sind im Grunde analog“, sagt Ritter-Lang. Es sei erschreckend, dass eine Prothese trotz solch schlechter Testergebnisse zugelassen worden sei. Experten hätten die Schwierigkeiten erkennen und sofort Bedenken äußern müssen, sagt Ritter-Lang. „Man hätte auch ein Stück Holz implantieren können – die Bilder wären dieselben.“
Inzwischen werden Cadisc-L-Prothesen nicht mehr eingesetzt. Ranier Technology nahm das Produkt im März 2014 vom Markt, weil zu viele Schäden auftraten. 2015 meldete das Unternehmen Insolvenz an, es wurde inzwischen aufgelöst. Schmerzensgeld ist hier nicht mehr zu holen.
Firmengründer
Andrews hat längst eine neue Firma gegründet, diesmal produziert er Lehrvideos
für Rückenoperationen. Auf Anfrage der BBC erklärte er, dass alle
Cadisc-L-Studien „strengen regulatorischen Anforderungen“ genügten. „Ernsthafte
Bedenken“ habe niemand geäußert. Insgesamt schreibt Andrews ein Dutzend
E-Mails. Es geht um ihn, seine Firma, seine Erfindung. Ein Wort des Bedauerns
findet sich darin nicht.

Das sind die Implant Files
Implantate können Leben retten – oder zerstören. Über einen Medizin-Skandal, der Tag für Tag aufs Neue passiert.