Erdbeben in Marokko 

„Ein Dorf in der Region wurde fast ausgelöscht“

Brahim Imzouaren wuchs in Agrd Noudoz auf, einem Dorf im Atlasgebirge, das stark vom Erdbeben betroffen ist. Jetzt hilft er vor Ort beim Wiederaufbau. Der Versuch, Worte für das Unbeschreibliche zu finden.

Protokoll von Ismahan Azzaitouni
15. September 2023 - 6 Min. Lesezeit

Bei dem Erdbeben im Südwesten Marokkos sind mehr als 3000 Menschen ums Leben gekommen, unzählige Menschen wurden schwer verletzt und haben ihre Häuser verloren. In der betroffenen Region im Atlasgebirge gibt es viele Dörfer ohne medizinische Einrichtungen und ohne asphaltierte Straßen. Eines dieser Dörfer ist Agrd Noudoz, es liegt 60 Kilometer von Ouarzazate und 130 Kilometer von Marrakesch entfernt.

Brahim Imzouaren wurde 1990 dort geboren und kam 1996 als Familiennachzügler nach Bonn. Ein Teil seiner Familie lebt noch immer in Agrd Noudoz. Als er erfahren hatte, dass sein Heimatdorf schwer vom Erdbeben betroffen ist, reiste er gemeinsam mit seinem Vater in den Ort, um die Menschen dort zu unterstützen. In einem Interview über Whatsapp-Call und Sprachnachrichten erzählt er von der Lage vor Ort. 

Es hat uns das Herz zerrissen, als wir erfahren haben, was passiert ist. Einige meiner Familienmitglieder, unter anderem mein Opa und meine Tante, haben ihre Häuser verloren. Viele Gebäude im Dorf sind komplett zerstört und nicht mehr bewohnbar.

Es bestürzt mich, dass mein Opa sein Haus verloren hat. Dieses Haus, das ich aus meiner Kindheit in Marokko kannte und von all den Besuchen in den Sommerferien. Das war der Ort, an dem sich unsere ganze Familie versammelt hat. Sein Lieblingsort war die Terrasse mit Blick auf die Moschee, die er wegen seiner Gehprobleme nicht mehr so oft besuchen kann. Wenn er sein Gebet auf dieser Terrasse verrichtete, fühlte er sich verbunden mit den anderen Betenden in der Moschee. Er ist jetzt bei meinem Onkel und dessen Frau untergekommen.

Bei dem ersten großen Beben in der Nacht von Freitag auf Samstag waren die meisten Dorfbewohner noch wach. Das war gut, denn viele konnten so rechtzeitig aus ihren Häusern raus, um sich vor den einstürzenden Dächern und Wänden zu schützen. Die Männer, die unterwegs waren, rannten sofort nach Hause zu ihren Familien. Bei uns im Dorf ist es so, dass die meisten Männer nur während der Sommerzeit im Dorf sind. Sie arbeiten ansonsten in den umliegenden Städten, die teilweise 100 bis 200 Kilometer weit weg sind, vor allem auf Baustellen. Deswegen konnten sie schnell helfen, Überlebende aus den Trümmern zu bergen. Die Umstände waren schwierig. Es gab einen Stromausfall, doch die Helfer hatten immerhin noch ihre Handytaschenlampen. Alle haben herumgefragt, bei wem noch welche Familienmitglieder fehlen.

Sie haben vom Moment des Geschehens an bis zum Samstagnachmittag überall Menschen gesucht.

Sie haben vom Moment des Geschehens an bis zum Samstagnachmittag überall Menschen gesucht.

Aus unserem Dorf sind leider zwei Frauen und ein kleiner Junge bei dem Erdbeben ums Leben gekommen, vier Personen sind schwer verletzt. Um die medizinische Versorgung der Verletzten wollen wir uns in den nächsten Tagen kümmern. Bei uns im Dorf konnten nun alle Überlebenden geborgen werden, doch viele haben ihr Zuhause verloren.

Innerhalb des Dorfes unterstützen sich die Menschen gegenseitig. Dieser Zusammenhalt rührt mich. Diejenigen, die ihr Haus verloren haben, werden von denen aufgenommen, deren Häuser noch stehen. Das Dorf ist sehr familiär verbunden.

Doch insgesamt haben wir in unserem Dorf nicht mehr genug Häuser für alle. Bald wird es richtig kalt. Wenn es in den nächsten Tagen regnet oder stürmt, können die Menschen nicht ohne ein sicheres Dach über dem Kopf überleben. Es gibt gerade einmal genug Zelte, um Frauen und Kinder darin unterzubringen. Die Männer schlafen im Freien. Wir suchen händeringend nach Lösungen dafür. Es wäre ein Traum, wenn in dieser Situation Baucontainer gestellt würden, in denen die Betroffenen übernachten könnten. Das wäre die schnellste und effektivste Übergangslösung für die gesamte vom Erdbeben betroffene Region.

Mein Vater ist in Agrd Noudoz aufgewachsen, er kam in den 80er Jahren nach Deutschland. Auch ich habe bis zu meinem sechsten Lebensjahr dort gelebt, meine Kindheit dort verbracht. Mein Vater und ich beschlossen sofort, in unsere Heimat zu fliegen und im Dorf zu helfen. Noch in Deutschland richteten wir einen Moneypool bei Paypal ein, um Geldspenden für unser Dorf zu sammeln. Wir sind am Montagabend nach Marrakesch geflogen, von dort aus ging es runter in Richtung Tischka, so nennt sich die Route ins Atlasgebirge. 

Um drei Uhr morgens kamen wir in Agrd Noudoz an. Dort haben wir erst mal nach unserem Haus geschaut. Es steht zum Glück noch, so konnten wir in unserem Haus meine beiden Tanten aufnehmen, deren Haus nicht mehr steht, und zu Hause schlafen. Wir hatten Angst vor Nachbeben und waren sehr unruhig.

Am nächsten Morgen bin ich durch das Dorf gezogen, um mir einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Ich habe mir die Schäden, den Schutt und die Trümmer angesehen, Fotos davon gemacht. Dann habe ich geschaut, wo Hilfe gerade am dringendsten gebraucht wird. Die vergangenen Tage haben wir vor allem einsturzgefährdete Häuser leer geräumt. Viele halten hier Zuchttiere in Ställen, die auch zusammengestürzt sind. Die überlebenden Tiere haben wir in die Ställe gebracht, die das Erdbeben überstanden haben. Am Tag meiner Ankunft kamen auch mehrere LKWs und Einsatzkräfte, die die marokkanische Regierung geschickt hatte, um die Region zu versorgen und Überlebende aus dem Schutt herauszuziehen. Es wurden Zelte, Decken und Lebensmittelpakete verteilt. Die Dorfbewohner haben Hilfeaufrufe über Facebook veröffentlicht und weitergeleitet.

Im ganzen Land wurden Spenden gesammelt und aus nördlicher gelegenen Städten wie Tanger und Rabat, die von dem Erdbeben nicht so stark getroffen wurden, in das Dorf gebracht. Es kamen aber auch viel Unterstützung und Spenden aus Marrakesch. Decken und Lebensmittel gibt es genug, zumindest in unserem Dorf.

Im ganzen Land wurden Spenden gesammelt und aus nördlicher gelegenen Städten wie Tanger und Rabat, die von dem Erdbeben nicht so stark getroffen wurden, in das Dorf gebracht. Es kamen aber auch viel Unterstützung und Spenden aus Marrakesch. Decken und Lebensmittel gibt es genug, zumindest in unserem Dorf.

Vor Ort habe ich gesehen, wie alle mit angepackt haben. Diese Hilfsbereitschaft in Agrd Noudoz hat mich gerührt. Es gibt in der Region aber auch Orte, in denen keine Hilfe ankommt. Auf manchen Straßen kann niemand fahren, weil sie komplett verschüttet sind. Ein Dorf in der Region wurde fast ausgelöscht, mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind gestorben.

Der König hat ein Hilfsprogramm für die Betroffenen angekündigt. Wir hoffen einfach, dass die Bürokratie schnell in Gang kommt, damit die Leute noch vor dem Winter wieder in warmen Häusern leben können. Um in Marokko ein Haus zu bauen, braucht man meist 10 000 bis 15 000 Euro. Wir hoffen, dass der Staat auch finanziell hilft. In dieser Region leben viele Menschen in ärmlichen Verhältnissen. Sie sind auf die Spenden und das schnelle Handeln des Staats angewiesen. Wir haben große Angst davor, dass die Baugenehmigungen zu spät kommen und viele den Winter nicht überstehen können. Im Winter haben wir auf den Bergen starken Schneefall und es ist sehr kalt, es entstehen meist sehr hohe Schneedecken.

Ich würde gerne in weitere Dörfer fahren, aber leider ist meine Zeit hier begrenzt. Nächsten Montag muss ich wieder in Deutschland zur Arbeit. Solange bleiben wir hier. Aus dem Spendenpool, mit dem wir schon mehr als 7000 Euro zusammen bekommen haben, werden wir uns erst um die medizinische Versorgung und dann um den Wiederaufbau des Dorfes kümmern. Wir leben schon lange in Bonn, haben aber einen starken Bezug zu unserer Verwandtschaft in Marokko und sind dort jeden Sommer. Meine Eltern und meine Geschwister sind die einzigen aus der Familie, die in Deutschland leben. Mein älterer Bruder ist jetzt auch eingereist, um vor Ort zu helfen. Wir erleben viel Unterstützung von unserer Familie, von Freunden und auch von Arbeitskollegen. Bei Paypal sehe ich, dass sich nicht nur Menschen mit arabischen oder muslimischen Namen beteiligen. Ich sehe auch deutsche und russische Namen, von Arbeitskollegen zum Beispiel. Für diese Unterstützung will ich mich auch im Namen des ganzen Dorfes von Herzen bedanken.“

Transparenzhinweis: In einer früheren Version dieses Textes stand, dass der König am Dienstag in einer Rede Hilfen angekündigt habe. Das ist nicht korrekt und wurde deswegen im Text angepasst. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen. 

Text: Ismahan Azzaitouni, Fotos: Brahim Imzouaren, Privat, Digitales Storytelling: Sophie Aschenbrenner