

Der Morgen, der alles verändert, ist ein Morgen im Dezember. Wie jeden Tag seit Beginn der Protestbewegung in Iran checke ich direkt nach dem Aufwachen zuerst, was über Nacht geschehen ist. Ich lese: Mohsen Shekari, 23 Jahre alt, wurde hingerichtet. Der Vorwurf: Er habe bei Protesten in Iran eine Straße blockiert.
„Jetzt fangen sie an, einen nach dem anderen zu töten“, denke ich.
Mohsens Hinrichtung ist der Beginn einer neuen Phase der Protestbewegung gegen das iranische Regime. Wie viele andere Iraner:innen bin ich schockiert. Denn Mohsen stand auf keiner der Listen von Inhaftierten, denen akut die Todesstrafe droht. Seiner Familie hat die Islamische Republik wohl vorgegaukelt, Mohsen würde freigesprochen, wenn sie sich nicht an die Öffentlichkeit wenden würden. Stattdessen wurde er hingerichtet und die Familie erst hinterher informiert. Neben Mohsen Shekari wurden bisher drei weitere junge Protestierende hingerichtet: Majidreza Rahnavard, Elias Raisi und Mohammad Mehdi Karami. Sie werden nicht die letzten sein. Fast 20 000 Menschen wurden bisher laut der Human Rights Activists News Agency im Zusammenhang mit den Protesten inhaftiert. Außerdem wurden 527 Tote auf den Protesten registriert, darunter 71 Kinder.
Vor fast fünf Monaten begann die aktuelle Protestbewegung gegen das iranische Regime, die die stärkste seit Bestehen der Islamischen Republik ist und mittlerweile auch von Politikwissenschaftler:innen wie Ali Fathollah-Nejad als „Revolution“ bezeichnet wird. Die Proteste nehmen nicht ab, entgegen allen Erwartungen. „Die Revolution ist ein Marathon, kein Sprint“ – dieser Satz kursiert innerhalb der iranischen Community. Der letzte Systemwechsel in Iran, als 1979 der Schah abgesetzt und die Monarchie beendet wurde, hat etwa ein Jahr lang gedauert. Sollte das wieder der Fall sein, haben wir noch nicht einmal die erste Halbzeit hinter uns. Die Menschen in Iran geben bereits alles, was sie können: ihr Leben. Wie können wir es ihnen zumuten, diesen Marathon länger als nötig zu laufen? Und wie können wir ihnen helfen?
Nach fünf Monaten bin ich vor allem eines: erschöpft.
Wir Iraner:innen in der Diaspora führen ein anstrengendes Doppelleben und wissen gleichzeitig, dass das nichts ist im Vergleich zu dem, was unsere Familien in Iran durchmachen. Es ist schwierig, nach außen zu funktionieren, wenn jahrzehntelange Wunden aufgerissen werden und man nur hoffen kann, dass es den Liebsten gut geht.
Ich gehe morgens in die Uni, wohlwissend, dass an der Universität meines Cousins am Tag zuvor seine Kommiliton:innen inhaftiert wurden, weil sie „Tod für Khamenei!“ gerufen hatten. Ich bestreite das alltägliche Leben und rufe mir ständig ins Gedächtnis, dass meine eigene Familie gerade nur damit beschäftigt ist, zu überleben. Ich frage mich immer wieder: „Wie kann sich eure Welt weiterdrehen, während meine direkt vor unseren Augen zerfällt?“
Anscheinend lebe ich seit fünf Monaten in einer anderen Realität als meine nicht-iranischen Mitmenschen. Denn den meisten Iraner:innen geht es wie mir. Wir in der Diaspora kämpfen um Aufmerksamkeit und Verständnis für die Iran Revolution. Wir kämpfen gegen das Gefühl von Erbschuld: Dass wir in einer Freiheit leben, die unsere Familien für uns erstritten und erarbeitet haben. Wir kämpfen gegen das Gefühl, genau diese Familie jetzt durch unsere Abwesenheit in ihrem Freiheitskampf im Stich zu lassen.
Wir kämpfen gegen die Angst, dass unsere letzten Erinnerungen an Iran unsere wirklich letzten Erinnerungen bleiben werden.
Wir waren noch nie so weit davon entfernt und gleichzeitig so nah dran, unsere Familien wiedersehen zu können. Obwohl wir uns nach ihnen sehnen, ist der Kontakt derzeit noch schwieriger als sonst. Vorausgesetzt, das Internet funktioniert halbwegs – worüber kann man mit den Verwandten sprechen, ohne sie zu gefährden, ohne die immer gleichen Floskeln zu benutzen? Was soll ich ihnen raten?
Manchmal will ich sagen: „Bitte passt auf euch auf, bleibt besser zu Hause!“ Dann wieder: „Bitte hört nicht auf, ihr müsst durchhalten!“
Wer von ihnen gerade besonders gefährdet ist, weiß ich nicht: Es ist zu riskant, die Namen derjenigen Familienmitglieder zu nennen, die auf den Straßen Irans für Freiheit kämpfen. Ich fühle mich oft schuldig. Weil ich den Menschen in Iran nicht direkt helfen kann. Weil meine Familie in Deutschland nicht mehr nach Iran einreisen kann, seitdem ich mich öffentlich äußere. Dagegen hilft mir der Austausch mit anderen iranisch-stämmigen Personen. Wir müssen uns nichts gegenseitig erklären, weil wir uns ohne Worte verstehen. Dieser Austausch ist heilsam. Doch er reicht nicht.
„Uns geht die Luft zum Atmen aus“, sagte mir meine Cousine zu Beginn der Proteste. Seit fünf Monaten holt sie jeden Tag von neuem Luft.
Es ist nicht nur Mut, der die Menschen weiterhin auf die Straßen treibt. Auch Ausweglosigkeit und Wut führen dazu, dass sie nicht aufhören, für etwas zu kämpfen, das größer ist als die Angst vor dem Tod – der Wille, in Freiheit zu leben.
Femizide, Mord, sexueller Missbrauch, Folter, Hinrichtungen: Das alles geschieht in Iran nicht erst seit September, sondern seit mindestens 44 Jahren. In all diesen Jahren kämpften die Iraner:innen in ihrem Land und der Diaspora dafür, dass mehr nicht-iranische Menschen hinsehen. Seit fünf Monaten scheint das zum ersten Mal der Fall zu sein. Ein Unterschied zu vorigen Protestbewegungen ist, dass es heute soziale Netzwerke gibt, auf denen Fotos und Videos von den Protesten und den Inhaftierten geteilt werden.
Diese Fotos und Videos
sind herzzerreißend. Als Iranerin spüre ich Hoffnung und ein Gefühl von
Empowerment und Stolz, wenn ich sie ansehe. Wie mutig sie alle sind! Endlich
sehen es auch die Menschen in Deutschland! Gleichzeitig sorge ich mich, weil
ich weiß, dass sich die Menschen in den Videos und Fotos in Lebensgefahr
begeben für das, was sie tun – weil sie es in einer Diktatur tun.
Wie viele Menschen würden auf den Straßen Irans demonstrieren, wenn sie keine Angst haben müssten, dafür getötet zu werden?
Ich wünsche mir, dass auch Nicht-Betroffene das, was in Iran gerade passiert, nicht vergessen. Denkt an eure iranisch- und kurdischstämmigen Mitmenschen, schätzt und unterstützt ihre Arbeit. Echte „Allys“, also Verbündete, sind jene, die sich nicht selbst als solche bezeichnen. Sie verstehen, dass das kein Label ist, das man sich selbst verleiht. Ally sein ist ein Prozess, und Betroffene entscheiden selbst, wen sie als Ally bezeichnen. Verbündete stehen hinter Betroffenen. Sie stellen nicht ihre eigenen Bedürfnisse und Perspektiven in den Vordergrund. Sie teilen ihre Plattform mit Betroffenen und lassen sie für sich selbst sprechen. Sie geben Betroffenen Credit, denn alles, was Verbündete über die Iran Revolution wissen, geht auf die Arbeit Betroffener zurück.
Zu Beginn der Proteste haben uns viele Fotos und Videos erreicht, von Menschen, die auf den Straßen ihre Kopftücher verbrennen oder bewaffnete Sicherheitskräfte zurückdrängen. Sie waren überall in den Medien. Jetzt sieht die Revolution anders aus:
ARD-Korrespondentin Katharina Willinger erzählt, dass die Menschen jetzt Parolen auf Hauswände und Geldscheine schreiben oder in den Generalstreik gehen. Das Regime geht besonders aggressiv gegen die ethnischen Minderheiten in den Provinzen Kurdistan und Sistan-Belutschistan vor. Während in der Hauptstadt Teheran die Protestierenden erschossen, verprügelt, getasert und mit Tränengas bekämpft werden, schießen Milizen der Islamischen Republik in Zahedan von Hubschraubern aus auf die Protestierenden. In Mahabad und Bukan fuhr die Revolutionsgarde mit Panzern ein, schoss in die Fenster von Privatwohnungen und plünderte diese.
Und in Deutschland? Wir in der Diaspora sind mittlerweile gut vernetzt, haben aus dem Nichts Gruppen und Strukturen geschaffen. Viele von uns suchen den Austausch mit politischen Entscheidungsträger:innen. Erstellen und teilen Petitionen, führen unzählige Gespräche, organisieren politische Patenschaften. Diese Arbeit ist für viele nicht sichtbar. Aber sie ist sehr wichtig. Denn auf die Politik konnten wir uns bisher leider nicht verlassen. In der iranischen Community hat es zwar kaum jemanden überrascht, dass die Revolutionsgarde nicht auf die EU-Terrorliste gesetzt wurde. Trotzdem ist es enttäuschend. Und trotzdem machen die Menschen in der Diaspora weiter, die nächsten Demos in Paris und Brüssel wurden bereits angekündigt.
Der Kampf für Frauen und queere Menschen, für Leben, und Freiheit, ist ein Überlebenskampf. In diesem Kampf stellt sich die iranische Bevölkerung, die nichts mehr zu verlieren hat, der Islamischen Republik entgegen, die alles zu verlieren hat. Es ist ein mutiger, ein unfairer Kampf. Eine Seite hat nichts als die Videos und Fotos, die sie bei gedrosseltem Internet an die Öffentlichkeit bringt, ihre Stimme, mit der sie lautstark ihre Parolen rufen, Steine, selbstgebaute Molotowcocktails und einen unbeugsamen Willen. Die andere hat einen brutalen Sicherheitsapparat, der seit Jahrzehnten finanziell und materiell aufgestockt worden ist sowie die Unterstützung von mächtigen Despoten wie Putin.
Der Gedanke an ein freies Iran und an alles, was damit zusammenhängt, lässt mich und andere weitermachen. Natürlich habe ich große Angst davor, dass diese Revolution nicht glückt. Es würde bedeuten, dass ich meine Familie nie wieder in Iran besuchen kann.
Noch mehr fürchte ich allerdings, dass alles so bleibt, wie es ist.