Iran

„Wir Frauen gelten als zweitrangige Menschen – halb so wertvoll wie Männer“

Bita aus Teheran litt schon als Kind unter der Macht der Männer. Sie erzählt, warum sie besonders ihren Bruder fürchtete und trotz der brutalen Gewalt des Regimes weiter protestiert.

Iran

„Wir Frauen gelten als zweitrangige Menschen – halb so wertvoll wie Männer“

Bita aus Teheran litt schon als Kind unter der Macht der Männer. Sie erzählt, warum sie besonders ihren Bruder fürchtete und trotz der brutalen Gewalt des Regimes weiter protestiert.

Protokoll von Ekaterina Bodyagina
22. Dezember 2022 - 9 Min. Lesezeit

Seit Jina Mahsa Amini im September in Polizeigewahrsam starb, halten die Proteste gegen das Regime in Iran an. Viele Protestierende wurden festgenommen oder auf der Straße von Vertretern der iranischen Regierung getötet. Vor zwei Wochen hat das Regime begonnen, festgenommene Demonstrierende hinzurichten. Der Erste von ihnen war der 23-jährige Mohsen Shekari, der am 8. Dezember ohne Zeugen getötet wurde.

Bita, 40, fürchtet sich vor dem Regime. Dennoch geht sie auf die Straße. Warum sie an den Protesten teilnimmt und wieso sie das Leben als Frau in Iran seit jeher als unfrei erlebt hat, erzählt sie im folgenden Protokoll.

Bita, 40, Teheran

„Wenn ich an meine Kindheit und Jugend denke, erinnere ich mich zuerst an meinen älteren Bruder. Er hat mich immer verprügelt für etwas, was er für ein Vergehen hielt: meinen unbedeckten Kopf, mein Make-up, meine Freundschaft mit Jungs. Er war 13 Jahre älter als ich und ein professioneller Kampfsportler. Einmal hat er mich verprügelt, weil ich mit einem Mädchen geredet habe, das er nicht mochte. Ein anderes Mal, ich war 19 Jahre alt, schlug er mir zwei Zähne aus, weil ich stundenlang telefoniert hatte.

Wenn mich jemand anrief, riss er mir das Telefon aus der Hand, um zu sehen, ob es ein Mann war. Interessanterweise brachte er selbst regelmäßig Mädchen nach Hause. Er sagte oft, wenn er mich mit einem Jungen sehen würde, würde er mich umbringen. Ich weiß, dass er das so gemeint hat.

Ich war die älteste von vier Schwestern und ich bekam das Schlimmste von seiner Grausamkeit ab. Nicht wegen meines Alters – ich weigerte mich einfach, sowohl meinem Bruder als auch den patriarchalischen Normen des iranischen Regimes zu gehorchen. Nachdem mir gesagt worden war, ich solle mich nicht mit Jungen treffen, freundete ich mich nur noch mit Jungen an. Wenn mir gesagt wurde, ich solle das Haus nicht verlassen, spazierte ich stundenlang. Einmal war ich mit einem Freund spazieren und eine Nachbarin sah uns. Sie hat es meinem Bruder erzählt. Sobald ich nach Hause kam, attackierte er mich. Die ganze Familie versuchte, ihn wegzuziehen, aber meine Eltern waren schwächer als er. Er hat mich schlimm verprügelt. Manchmal waren die körperlichen und emotionalen Schmerzen seiner Schläge unerträglich – ich versuchte mehrmals, Selbstmord zu begehen.

Ich habe Musik schon immer geliebt und wollte Sängerin werden. Aber in Iran darf eine Frau nicht öffentlich singen (Soloauftritte vor gemischtem Publikum sind in Iran für Frauen verboten, Anm. d. Red.). Wenn mein Bruder sah, dass ich Musik hörte, nahm er mein Tonbandgerät weg und schloss es im Schrank ein. Den Schlüssel trug er mit sich. Wenn wir im Auto fuhren und er merkte, dass mir ein Lied gefiel, stellte er es sofort ab.

„Wenn sie Make-up an dir finden, können sie dich für eine Woche von der Schule verweisen“

In der Schule war die Situation nicht besser. Jede Klasse hatte einen von den Lehrkräften rekrutierten Schülerspion, der sicherstellte, dass niemand gegen die Regeln verstieß. Wir wussten nicht, wer das war und verdächtigten uns gegenseitig.

Die Mädchen wurden in der Schule streng kontrolliert: was man anzieht, was man liest, mit wem und wie man redet. Am Schuleingang schauten die Wärter in unsere Taschen. Alles außer Büchern war verboten. Wenn sie Make-up an dir finden, können sie dich für eine Woche von der Schule verweisen. Einmal fanden sie in meiner Tasche Fotos von Fußballspielern und ein Videoband. Sie gaben mir einen Notenabzug in Disziplin und beschwerten sich bei meiner Mutter. Als mein Bruder das herausfand, schlug er mich wieder zusammen.

Um ein zumindest halbwegs interessantes Leben führen zu können, musste ich die ganze Zeit lügen. Anstatt den Bus zu nehmen, liefen wir mehrere Kilometer zur Schule, um Zeit mit Freunden zu verbringen. Wenn wir zu spät kamen, sagten wir, der Bus sei zu spät. Ich hatte ständig Angst, aufzufliegen.

Mein Traum war es, zu heiraten, damit ich endlich von meiner Familie wegkommen und tun konnte, was ich wollte. Also habe ich mit 20 geheiratet. Mein Mann und ich kannten uns seit unserer Kindheit, unsere Familien waren befreundet. In den zwei Jahren vor unserer Hochzeit kamen wir uns besonders nahe, aber zunächst waren wir nur Freunde. Mein Mann hat eine Schwester und ich habe gesehen, wie er sie behandelt hat – überhaupt nicht so, wie mein Bruder mich behandelt hat. Er unterstützte sie in all ihren Bemühungen.

„Einmal wurden mein Mann und ich von der Sittenpolizei angehalten, weil der letzte Knopf meines Mantels fehlte“

Die Familie stimmte meiner Wahl zu. In den ersten Monaten nach der Hochzeit bat mich mein Mann, bei Familienfeiern ein Kopftuch zu tragen. Aber als ich nein sagte, bestand er nicht darauf, und dann gewöhnte er sich daran, dass ich meinen Kopf nicht bedeckte. Wir mögen uns in manchen Fragen nicht einig sein, aber wir lösen unsere Meinungsverschiedenheiten einvernehmlich, er respektiert meine Entscheidungen.

Als wir heirateten, fing ich an, meine langjährigen Träume zu verwirklichen – ich ging zum Studieren, um Übersetzerin zu werden, ich fing an, öfter mit meinen Freunden auszugehen und Musik zu hören. Auch solche scheinbar einfachen Dinge sind für eine Frau in Iran nicht einfach. Nach der Heirat erhält der Ehemann unbegrenzte Macht. Auch wenn er sie nicht nutzen will, muss sich die Frau ständig an ihn wenden. Um zum Beispiel zur Uni zu gehen oder das Land zu verlassen, brauche ich die Erlaubnis meines Mannes. Ich vertraue meinem Partner, aber natürlich habe ich trotzdem Angst, dass er eines Tages die ihm vom iranischen Regime gegebene Macht nutzen will. Er könnte zum Beispiel eine zweite Frau nehmen.

„In Iran liegt die Verantwortung für das Verlangen eines Mannes vollständig bei der Frau“

Selbst mit einem Ehemann ist der Aufenthalt in der Öffentlichkeit für eine Frau in Iran voller Kontrolle und potenzieller Gefahr. Einmal wurden mein Mann und ich von der Sittenpolizei angehalten, weil der letzte Knopf meines Mantels fehlte. Mein Mann wurde wütend und sagte zu den Polizisten: Ich schaue nicht auf den Saum des Mantels meiner Frau, warum macht ihr das? Als Reaktion darauf begann die Polizei, ihn zu beleidigen – sie sagte, er sei kein Mann, da er seine Frau nicht genug kontrollierte. Sie gaben mir eine Nadel und ließen uns erst gehen, nachdem ich den Saum meines Mantels damit befestigt hatte.

In Iran liegt die Verantwortung für das Verlangen eines Mannes vollständig bei der Frau. Einmal fuhr ich in einem „kurzen“ Mantel in einem Bus und ein Mann fing an, mich anzufassen. Ich schlug ihn und er schlug mich zurück und sagte, wenn ich es nicht wollen würde, würde ich nicht „so“ herumlaufen. Es ist unmöglich, in solchen Fällen Gerechtigkeit zu erlangen, weil das Regime auf der Seite von Menschen wie meinem Täter steht.

Ich habe immer versucht, ohne Kopftuch herumzulaufen. Ich habe es nur um den Hals getragen. Auf der Straße wurde ich dafür oft mit Blicken verurteilt oder beleidigt. Als ich in der religiösen Stadt Qom bei Teheran war, hat mich eine Frau deshalb angespuckt. Ich erstarrte vor Schock und Entsetzen. Dann fing ich an zu schreien, dass sie ihren Weg gehen soll und dass es sie nichts angeht, wie ich meinen Körper bedecke. Aber mit solchen Leuten zu reden, ist sinnlos.

„Wir können unter diesem Regime nicht länger überleben“

Jetzt, nachdem das Regime Mahsa Amini getötet hat, trage ich unter keinen Umständen und in keiner Form mehr ein Kopftuch – auch nicht als Halstuch. Mahsas Tod ist nicht der erste Mord dieser Art aufgrund des iranischen Patriarchats, vor ihr starb beispielsweise Romina Ashrafi (ein 13-jähriges Mädchen, das von ihrem Vater enthauptet wurde, nachdem es mit einem erwachsenen Mann ausgerissen war, Anm. d. Red.). Aber es war Mahsas Tod, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wir können unter diesem Regime nicht länger überleben. Früher hatte ich Angst, an Protesten teilzunehmen. Erst 2014 habe ich mich gegen massenhafte Säureangriffe auf Frauen ausgesprochen (2014 übergossen Motorradfahrer in Isfahan mehrere Frauen, die mit heruntergelassenen Fenstern fuhren, mit Säure. Angeblich wollten die Täter die Frauen für vermeintlich unangemessene Kleidung bestrafen. Tausende iranische Frauen gingen auf die Straße und forderten ein Ende der Gewalt gegen Frauen, in Isfahan und anderen iranischen Städten, Anm. d. Red.). Beim Protest gingen meine Freunde und ich einfach schweigend durch die Straßen von Teheran. Aber die Polizei ging sehr hart mit den Demonstrierenden um und feuerte schließlich Tränengas ab. In den vergangenen Jahren hat sich die Situation in Iran nur verschlechtert. Besonders für Frauen. Für die iranische Gesellschaft gelten wir Frauen als zweitrangige Menschen – halb so wertvoll wie Männer.

„Es schmerzte mich, daran zu denken, dass ich meinen Sohn vielleicht nicht wiedersehen würde“

Ich beteiligte mich am allerersten Protest, der durch Mahsas Ermordung ausgelöst wurde, am 16. September, sobald die Nachricht von ihrem Tod bekannt wurde. An diesem Tag empfand ich einen tiefen Hass auf den islamischen Staat. Ich bin gegen das Regime auf die Straße gegangen, nicht nur gegen den Hijab. Ich bin alleine gegangen, mein Mann war mit unserem siebenjährigen Sohn zusammen. Die meisten Demonstrierenden waren Frauen und Mädchen, zwischen 15 und 25 Jahre alt, schätze ich. Die meisten von ihnen hatten ihre Köpfe unbedeckt. Aber es gab auch Frauen im Hijab. Wie gesagt, diese Proteste richten sich in erster Linie gegen den islamischen Staat. Alle zusammen skandierten wir: „Tod Chamenei! Tod dem Diktator! Das Ende des islamischen Staates!“ Der Keshavarz Boulevard im Zentrum von Teheran war voller Menschen. Ich fühlte mich glücklich und frei. Bald jedoch tauchte die Polizei auf. Sie fingen an, Menschen zu schlagen, und dann feuerten sie Tränengas ab. Ich hatte schreckliche Angst. Es schmerzte mich, daran zu denken, dass ich meinen Sohn vielleicht nicht wiedersehen würde, also rannte ich nach Hause. Ich war etwa fünf Stunden bei der Kundgebung.

Am nächsten Tag erfuhren wir eine erschreckende Sache. Während des Protests wurde dem Bruder unseres Freundes von der Polizei in die Leber geschossen. Sie ließen ihn keinen Krankenwagen rufen und er starb im Polizeiauto. Die Angehörigen wurden festgenommen und unter der Bedingung freigelassen, dass sie erklären, dass der Verstorbene an einem Herzinfarkt gestorben sei. Nur unter dieser Bedingung würden sie ihnen auch erlauben, ihn zu begraben. Die Angehörigen kamen dieser Anordnung nach. Nur diejenigen, die ihm am nächsten standen, kannten die Wahrheit.

„Ich möchte, dass iranische Frauen leben. Und dass sie sicher sind“

Danach ging ich erst einmal nicht mehr raus, um zu protestieren. Ich wollte nicht, dass mein Sohn seine Mutter verliert. Ich drücke meinen Protest aus, indem ich meinen Kopf nicht mehr bedecke. Ich sehe immer mehr Frauen ohne Kopftuch. Wenn wir uns auf der Straße begegnen, lächeln wir – so zeigen wir uns gegenseitig unsere Unterstützung. Jeden Tag um 21 Uhr schreien Menschen aus ihren Fenstern Parolen gegen den islamischen Staat. Es fällt mir schwer zu sagen, wie viele Leute in unserem Haus das tun, aber es scheint die Mehrheit zu sein. Die Proteste gehen jede Nacht weiter, besonders samstags. Mein Mann geht auch auf die Straße. Ein- oder zweimal pro Woche. Natürlich mache ich mir große Sorgen um seine Sicherheit, aber ich bin stolz darauf, dass er eine bessere Zukunft für mich und unseren Sohn will.

Auch ich habe meine Angst nun überwunden und nehme wieder jede Nacht an Protesten teil. Als ich sah, wie all die jungen Menschen im Gefängnis und auf den Straßen protestierten, schämte ich mich dafür, zu Hause zu sitzen. Ich hoffe, dass ich diese Revolution einen kleinen Schritt weiterbringen kann. Ich möchte, dass iranische Frauen leben. Und dass sie sicher sind. Ich möchte, dass sie Jobs, Freiheiten und gleiche Rechte wie Männer haben. Damit sie nicht das Eigentum ihrer Ehemänner, Väter und Brüder sind.

Vor fünf Jahren habe ich meinem Bruder gesagt, dass die schlimmsten Momente meines Lebens mit ihm verbunden waren. Dass seine Strenge und Gewalt mich nur verletzt haben, mich aber nicht dazu brachten, die Regeln zu befolgen. Dass ich mit Jungs ausgegangen war und einen Freund hatte. Und dass er mir mit seiner Grausamkeit nur das Lügen beigebracht hat. Er war verlegen und sagte, er sei jung gewesen und habe das Gefühl gehabt, dass die Gesellschaft von ihm erwarte, dass er sich wie ein älterer Bruder benehme. In seinen Worten lag ein Gefühl von Reue und Trauer. Ich habe ihm verziehen.

Team
Text Ekaterina Bodyagina
Illustrationen FDE
Digitales Storytelling SZ Jetzt