
Kurz vor Mitternacht ist DJ Elly dran. Sie ist aufgekratzt wie jedes Mal, bevor sie ans Pult tritt. Eine kleine Frau mit Stachelhalsband, roten Haaren und schwarzem Käppi, den rechten Arm bedeckt ein Drachentattoo. Elly Steiner, 75, schlängelt sich an Feiernden vorbei, die Netzhemden tragen und Stiefel mit hohen Absätzen – und sehr viel jünger sind als sie.
Es ist ein Tag im frühen Januar, auf einem Hinterhof in Stuttgart läuft das Lovepop-Festival für alle, die „queer – straight – whatever“ sind. Über den Platz schallen die Bässe. „Euer Outfit: so hammergeil“, ruft Elly Steiner einem jungen Pärchen zu, das sich ein Geflecht aus Schnüren um Hüfte und Beine gebunden hat, beide in weiten Ledermänteln. Dann im schweren Schwäbisch zu einem Freund: „I muss jetz’ ufflege. Kommsch au nei?“
Vor ihr zücken Tanzende zu House und Techno ihre Handys und filmen sie wie einen eingeflogenen Star. Ein junger Mann tippt in seine Instagram-Story: „Mit 75 Jahren liegen manche schon auf dem Friedhof und DJ Elly legt noch geil auf.“ Was treibt Elly Steiner also an, bis vier Uhr morgens durchzufeiern?
Klar gibt es noch andere DJs in Steiners Alter. Madelein Mansson etwa, mit 79 Jahren Schwedens älteste DJ, spielt aber nur für Menschen ab 50. Steiner will das nicht. Sie lege in keinem Café auf und auch in keiner Festhalle mehr, sagt sie. Zu ihrer Musik sollen auch 20-Jährige tanzen. In Deutschland macht das keiner sonst in ihrem Alter, Elly Steiner ist die älteste DJ hierzulande.
Sie hört regelmäßig in die Charts rein, um die „neuschte Gassehauer“ mitzukriegen, wie „Houdini“ von Dua Lipa. Eigentlich steht sie nicht so sehr auf Kommerzmusik. „Komm Schmerzmusik“, sagt sie dazu. Sie mischt den Pop in ihren Sets unter. Neben House umfasst ihr Repertoire Hip-Hop, Trance und EDM, Elektronische Tanzmusik.
Wer das Phänomen DJ Elly begreifen möchte, muss nach Stuttgart fahren. Dort ist Steiner längst Legende. Ein Treffen, ein paar Wochen nach dem Lovepop-Festival: Steiner kommt mit ihrem Hund an der Leine, knallblaue Jacke, Flanellhose, auf dem Kopf ein Superman-Käppi. Sie möchte sich hier in der Silberburganlage treffen, einem kleinen Park in Stuttgart-Süd. Steiner ist ein wenig menschenscheu, und zuletzt war viel los: Wochenlang hat der SWR sie vergangenes Jahr mit Kameras für eine Doku begleitet. „75 und kein bisschen leise“ lautet der Titel.
Dabei hat Steiner es ganz gerne leise.
Nach ihren Auftritten schläft sie aus. Aber nie länger als 13 Uhr. Dann nimmt sie ihren Hund, einen Streuner aus Portugal, geht nebenan in den Park, schaut in die Bäume und schwätzt mit den Vögeln. Sie meditiert und malt. Zwei Tage braucht Steiner, um sich von einer Clubnacht zu erholen, sagt sie. Früher, in den Achtzigern und Neunzigern, feierte sie locker durch bis sieben Uhr morgens – jedes Wochenende, beide Tage.
Sie legte im Kings Club auf, einer der ersten schwulen Discos Deutschlands. Der Club mit seinem burlesken, roten Keller und dem Plüsch-Interieur schloss 2020 nach 53 Jahren, Steiner erlebte seine „geilen Zeiten“ mit. Im „KC“ gingen Helmut Berger und Freddy Mercury ein und aus, Steiner selbst kam einmal mit dem „Lockigen von Simply Red“ ins Schwatzen. Mick Hucknall war das.
Doch Steiner kennt auch andere Zeiten.
Am 23. März 1948 wurde sie in Stuttgart geboren, ihr Vater war ein angesehener Musiklehrer und der erste Direktor der Stuttgarter Musikschule. Kunstsinn lag quasi in der Familie. Auch Steiner studierte Kunst und unterrichtete selbst eine Weile an der Musikschule. Und sie trank: Bier, Wein, Schnaps. Jeden Abend sei sie „drauf“ gewesen, zwei Jahrzehnte lang, nahm nebenbei noch Kopfschmerztabletten, Kodein. „Alles, was du in der Apotheke kriegst.“ Dazu Psychopharmaka und Haschisch.
Und heute? Steiner sitzt auf einer Parkbank, hebt den Zeigefinger und sagt ein Datum auf wie eine Zauberformel: „23. August 87.“ Ihr erster cleaner Tag. In der Nacht zuvor saß sie auf ihrem Sofa, war blau und heulte „übers Dasein“. Dann habe sie ein „Lichterlebnis“ gehabt, so nennt sie es: Eine Kugel aus Licht, so groß wie ihr Wohnzimmer, sei durchs Fenster gedrungen und habe alles hell erleuchtet. Da wusste sie: „Du musst aufhören.“ Sieben Jahre lang machte sie Therapien – Anonyme Alkoholiker, Entzug, Psychoanalyse. Heute trinkt sie nur noch Tee, am liebsten Rooibos, ansonsten Wasser, morgens Kaffee. Sie ist trocken seit 36 Jahren.
In der Therapie begann Steiner zu malen. Sie stellte sich eine Flasche Cola hin, legte eine Zigarette dazu und ließ einen „chilligen Track“ auf Dauerschleife laufen. Vier, fünf Stunden lang, bis das Bild fertig war. Ihre Motive waren Horizonte, Himmel, Landschaften, sie verkaufte sogar was. Für eine Kundin malte sie mal einen Riesenpenis, getarnt in Wolken.
Doch schließlich war es die Musik, die ihr aus der Sucht half.
Zurück auf dem Lovepop-Festival: DJ Elly hat losgelegt. Das „Breitengrad 17“ ist tagsüber ein vietnamesisches Restaurant, nun sind Tische und Stühle an die Wände gerückt. Das DJ-Pult ist zwischen zwei wuchtigen Löwenstatuen eingeklemmt, über Steiners Kopf dreht sich eine Discokugel. Damit sie durch ihre rot geränderte Brille etwas auf dem Bildschirm ihres Laptops erkennt, muss sie sich quer über den Tisch beugen.
Sie mischt Elektromusik, streut darin Eminem oder „Gonna Make you Sweat“ von C+C Music Factory ein. Wenn sie einen Hit anspielt, füllt sich die Tanzfläche. Das liebt sie. Dann setzt der Bass ein, und sie lacht ins Publikum, lässt die Fäuste über dem Kopf kreisen und reißt die Arme auseinander. „Ich gebe euch alles“, soll das heißen. Hat sie von Tiësto, einem niederländischen DJ.
Doch was gibt ihr das?
„Es dauert höchstens ein, zwei Sekunden. Eins … zwei … drei“, dann öffnet sie die Arme, und die Glücksgefühle strömen zwischen ihr und den Tanzenden. Wie in Zeitlupe. „Nirgends schütte ich so viel Adrenalin aus“, sagt Steiner. Tagelang sei sie davon berauscht, sie nennt das „natural high“, drauf sein ohne Droge.
Ihre Vorbilder am Pult? Der frühe David Guetta, Purple Disco Machine und Charlotte de Witte, eine belgische Techno-DJ. Letztere bewundert sie für ihre Strahlkraft beim Auflegen: „Du musst mit dem Herz auflegen, dann strahlt es von allein.“
Immer mal kommt jemand an ihr Pult mit einem Liedwunsch. Dann tippt sich Steiner gerne an die Kopfhörer: Sorry, geht grad nicht. Fragen bringen sie aus dem Flow. „Das DJ-Pult ist das Heiligtum“, sagt sie. Ihr Safe Space. Früher hat Steiner ein Schild vorn ans Pult gehängt: „Don’t talk to the DJ.“ Lass mich in Frieden.
Steiner war ungefähr 40, als sie mit dem Auflegen begann. Sie sah anderen DJs auf den frühen House-Partys zu und entschied: Das will ich machen. Also machte sie, besorgte sich zwei „Zwölfzehner von Technics“ – Profi-DJ-Plattenspieler – und lernte aus Youtube-Videos. Etwa wie man „beat matching“ betreibt, also die Schläge pro Minute zweier Stücke auf die gleiche Anzahl bringt, um einen glatten Übergang zu bauen. Wenn die Stücke ordentlich ineinanderfließen, ist Steiner happy.
Als auf dem Lovepop mitten im Set ihre DJ-Software samt 180-Lieder-Playlist ausfällt, muss sie „zaubern“: Sie steckt USB-Sticks mit aufgenommenen Sets in das Macbook und legt Filter zwischen die Lieder – Echos, Spiralen, Loops. Die Party geht weiter.
Wer auf dem Lovepop herumfragt, merkt: Viele können sich „die Szene“ ohne Elly Steiner gar nicht vorstellen. Sie meinen die aktive, queere Szene.
1985 fand in Stuttgart der erste Christopher Street Day (CSD) statt. Zwei, drei Jahre später lief Steiner mit, und auf der Parade im vergangenen Juli legte sie im Finale auf. 400 000 Menschen nahmen da teil. Steiner hat miterlebt, wie sich die Szene in vierzig Jahren gewandelt hat. Noch vor 20 Jahren seien Partys streng nach Frauen und Männern aufgeteilt gewesen. Steiner legte zu der Zeit einmal bei einer Fetischparty für Schwule auf und versteckte ihre Haare unter einer Mütze, damit sie als Mann durchging.
Sie selbst hielt es inklusiver: Für ein paar Jahre führte sie eine eigene Kneipe, die „Wunderbar“, und mischte darin die Geschlechter. „Keiner hatte so ein großes Männerklo“, sagt Steiner und lacht.
Steiner hatte viele Jobs, neben Lehrerin und Barfrau auch mal Korrektorin in einer Druckerei. Am längsten aber fuhr sie Taxi. Weil sie unabhängig sein wollte, gründete sie ihr eigenes Unternehmen, kaufte sich ein Auto und fuhr zwei-, dreimal die Woche, vor allem nachts. An den Wochenenden legte sie auf.
Dabei fiel ihr bald eine Frau mit langen Haaren und Motorradstiefeln auf, die auf Frauendiscos dauernd um ihr Pult herumtanzte. Sie sprachen sich an, es machte klick.
Mehr als 25 Jahre später sitzt Meike Wiedemann auf dem Lovepop-Festival draußen an einem Tisch, vor sich ein Glas Gin Tonic. Die Haare sind inzwischen kurz, statt Motorradstiefel trägt Wiedemann Turnschuhe. Sie begleitet ihre Frau Elly, seit 2010 sind die beiden verheiratet, zu zweit haben sie Steiners Macbook und den fast fünf Kilo schweren DJ-Controller hergetragen. Früher, als DJ Elly noch mit Vinyl auflegte, schleppten sie zwei Weinkisten mit bis zu 150 Platten zu Steiners Auftritten. „Als Liebesdienst“, sagt Wiedemann.
Sie ist 19 Jahre jünger als Steiner, keine Tattoos, die Haare grau. Eine Neurobiologin, die in Stuttgart eine eigene Praxis hat. Wenn „die Elly“ um Mitternacht aufdreht, ist Wiedemann schon mit dem Hund heim und legt sich schlafen.
So abstinent wie ihre Frau lebt sie auch nicht: Wiedemann geht gerne essen und Wein trinken, „so roten, schweren, dunklen, von dem du nachher eine blaue Zunge hast“.
Während Steiner Bücher über Mystik und Spiritualität liest und zum Buddhismus konvertiert ist, fährt Wiedemann auf neurowissenschaftliche Konferenzen. Dazwischen finden sie Gemeinsames, machen Tai-Chi und fahren mit ihrem Sportboot Tagestouren auf dem Neckar. Früher schlief Steiner an Bord und kochte Marmelade. Heute strengt sie das zu sehr an.
Wegen Magenproblemen musste sie vergangenes Jahr ins Krankenhaus. Anfragen zum Auflegen lehnt sie häufiger ab.
Während sie früher jedes Wochenende hinter dem DJ-Pult stand, spielt sie heute nur noch unregelmäßig, zwei-, dreimal im Monat, auch mal kleiner und privat. Und nach ein paar Monaten am Stück legt sie dann wieder eine längere Pause ein.
Auf dem Lovepop spielt sie im Wechsel zweimal, fast vier Stunden insgesamt. Nach der ersten Runde hockt sie sich kurz auf eine Musikbox neben dem Pult, trinkt Wasser, atmet durch. Dann setzt sie ihr Strahlen auf und geht vorn in die Crowd, tanzt mit.
Ein bisschen geht noch.